Luther historisch einordnen

Die großen Erfolge, die die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mit ihren Inszenierungen des Religiösen vor allem unter der Jugend feiern, wären ohne die von Luther gegen das Renaissancepapstum erzwungene Wende zurück zum religiösen Kern kaum vorstellbar. Luther als Garant neuzeitlicher Religiosität – unter dieser Perspektive können sich somit auch die katholische und alle anderen christlichen Kirchen 2017 eingeladen fühlen, zusammen mit den Lutheranern den Reformator wo nicht zu feiern, so doch zu würdigen.

 

Unter den nicht intendierten, gleichsam überschüssigen Wirkungen der Reformation, die bis heute unsere Welt bestimmen, und zwar in wachsendem Maße, sind die Differenzierung und die Säkularisierung besonders gewichtig: Luther stand mitten in einem tief greifenden Prozess der Differenzierung. Er selbst hat diese Entwicklung gewaltig beschleunigt, indem sich infolge seiner Reformation die societas Christiana religiös und kulturell in unterschiedliche Konfessionen und Denominationen differenzierte. Der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte negative Begriff „Spaltung“ ist zwar zeitgenössisch; für eine analytisch-wissenschaftliche Bestimmung der allgemeingeschichtlichen Leistung ist er aber wenig geeignet. Indem die Konfessionalisierung der europäischen Christenheit den Konfessionsstaat hervorbrachte, trieb sie zugleich die staatliche Differenzierung der Christenheit voran, bis hin zur Geburt eines internationalen Systems rechtlich gleicher Partikularstaaten im Feuersturm der europäischen Konfessionskriege. Es war Luthers in gewisser Weise tragisches Schicksal, als Geburtshelfer der geistigen, kulturellen und auch politischen Differenzierung Europas gedient und damit zugleich der pluralistischen und liberalen Moderne Bahn gebrochen zu haben. Gewollt hatte er indes anderes, nämlich ganz Ähnliches wie seine Hauptkontrahenten Erasmus und Kaiser Karl V. – wie Erasmus, der die aufbrechende militante Partikularität der sich separierenden Nationen geißelte und ihr die friedvolle Universalität des populus Christianus entgegenhielt; wie Karl V., der das in Einzelstaaten auseinander tretende Europa mit der universalen Kaiseridee zusammenzuhalten sucht. Wie dem Kaiser das einigende politische Band, so war Luther das einheitliche religiöse Band der Christenheit Lebensaufgabe. Und da das in Alteuropa, wo Religion immer zugleich als vinculum societatis, Frieden stiftendes Band der Gesellschaft, verstanden wurde, zwei Aspekte derselben Sache waren, wurde der Fundamentalkonflikt zwischen Reformator und Kaiser in dem Moment unvermeidlich, als das neu gewobene religiöse Band die theologischen und kirchenrechtlichen Grundlagen des kaiserlichen Politikbandes in Frage stellte. Indes zeigten sich beide universalistisch gedachten Bänder – das politische des Kaisers ebenso wie das religiöse des Reformators – als ungeeignet, die aufbrechende Differenzierung der Christenheit oder Europas zu bändigen und im Innern der Staaten oder zwischen ihnen ein friedvolles Zusammenleben zu garantieren.

„Luther 2017 meint somit einen Gedenkort“

Was 2017 wirkungsgeschichtlich Luther zuzuschreiben ist – der Protestantismus und die von Rom unabhängigen Landes- und Nationalkirchen, war somit das Ergebnis seines kirchenpolitischen Scheiterns, genauso wie die partikulare und säkulare europäische Staatenwelt der Neuzeit, die beim 500. Geburtstag Karls V. im Jahr 2000 als dessen Erbe gefeiert wurde, nicht Resultat seiner Intentionen, sondern seines politischen Scheiterns war. Dennoch gehört beides zum unverzichtbaren Kern der Moderne, auf der auch noch unsere Gegenwart fußt – die politische Vielfalt und Freiheit, die in Europa immer noch die Despotie eines erdrückenden Einzelstaates verhindert hat, ebenso wie die religiöse, schließlich weltanschauliche Pluralität, die mit Luthers Tat ihren Lauf nahm. – „Luther 2017“ meint somit einen Gedenkort, der keineswegs nur Christen und auch nicht nur Deutsche betrifft.

 

Die von Luther wesentlich ermöglichte Re-Implantation von Religion und Glauben in den europäischen Prozess der Zivilisation hat ohne Zweifel auf Generationen hin auch bösen Streit, mörderische Kriege und tiefes menschliches Leid gebracht. Zugleich hat diese Renaissance des Religiösen aber ganz entscheidend das Profil des neuzeitlichen Europa mitgeprägt. Nach Überwindung des Konfessionsfundamentalismus der Glaubenskriege galt nicht mehr die noch von Hugo Grotius aufgemachte Alternative, entweder „ein guter Christ“ oder „ein guter Bürger“ zu sein. Beides konnte und musste zusammengehen – nicht zuletzt dank Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die auch die säkulare Welt christlichem Handeln erschloss. Vor allem aber hatte die lutherische Zentrierung auf das Heil zu einer Neubelebung der Europa eigentümlichen, in des Renaissancekirche aber weitgehend abhanden gekommenen Typus von Säkularisierung geführt. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die neuzeitliche „Verweltlichung“ nicht Kappen der religiösen Emphase meint, sondern deren Transformation in die weltlich-gesellschaftliche Ordnung, die dadurch besondere Legitimität und Dignität erhält. Das belegt nichts deutlicher als das Symbol der Friedenstaube: Den Westfälischen Friede, der 1648 die neue religiöse und politische Differenzierung Europas völkerrechtlich sanktionierte, repräsentierte sie noch mit dem Ölzweig im Schnabel als den Frieden zwischen Gott und den Menschen. Der Friedenstaube unserer Tage ist solche Transzendenz fremd; gleichwohl hat ihr die Säkularisierung religiöse Emphase verliehen, die der Forderung nach weltlichem Frieden zwischen den Menschen besondere Legitimität und Nachdruck gibt.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 03/2009 erschienen.

Heinz Schilling
Heinz Schilling ist Professor für Frühe Neuzeit am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
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