Heinz Schilling - 1. Mai 2009 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Luther historisch einordnen


Luther 2017 – welche Bedeutung können der Wittenberger Reformator und sein Werk anfangs des 21. Jahrhunderts beanspruchen und welche Kreise haben Anlass, der Ereignisse vor 500 Jahren zu gedenken – nur die Lutheraner oder die Christen insgesamt und darüber hinaus auch Nicht-Christen, die sich der geistigen Ursprünge ihrer Existenz vergewissern wollen? Eine Antwort auf diese Fragen ist einfach und schwer zugleich. Denn einerseits ist Luther im Geschichtsbild nicht nur der Deutschen und des Luthertums nachdrücklich präsent – anders als etwa Johannes Calvin, dessen 500. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. Andererseits ist es aber gerade diese Allpräsenz, die die geschichtliche Leistung Luthers eher verdunkelt als erhellt, beruht sie doch im Wesentlichen auf späterer politischer Inanspruchnahme vor allem durch nationale Deutungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Um Mann und Werk im Horizont ihrer Zeit zu begreifen und ihre Bedeutung für die Gegenwart historisch sachgerecht zu bestimmen, gilt es diese Halde der Lutherrezeption und des Luthermythos abzutragen. Zudem empfiehlt es sich, zwischen den Intentionen des Wittenberger Bibelprofessors einerseits und seinen darüber hinausgehenden Wirkungen andererseits zu unterscheiden.

 

Intentionen und Antriebskern seines Handelns lassen sich nicht aus einer Nähe Luthers zu den Bedingungen unserer heutigen Existenz bestimmen. Vielmehr gilt es auf das ganz Andere und Fremde bei Luther zu achten: Von seiner Wirkungsgeschichte befreit, ist der Reformator eine der großen Gestalten einer für uns heute verlorenen Welt. Er und sein Werk sind nur historisch zu verstehen, wollen wir nicht wiederum nur den eigenen Zeitgeist in ihm „feiern“. Luther darf nicht, jedenfalls nicht vorschnell, zu dem Unsrigen gemacht werden, wie das bei den zurückliegenden Zentenarfeiern die Regel war – 1617, in gewisser Weise auch noch 1717 Luther, der Konfessionalist und Befreier aus papistischer Knechtschaft; 1817 Luther, der Befreier und Heros der soeben erweckten Deutschen Nation (Wartburgfest 18/19. Oktober); 1917 der nationalistische Durchhalte-Luther, der wenig später in den finsteren Jahren der nationalsozialistischen Selbst- und Fremddeutung sogar zum Ahnherr Hitlers verzerrt wurde.

„Luther markiert eine Wegscheide der Weltgeschichte“

Allerdings kann es nicht bei der Trennung von vergangener Lebenswelt und Wirkungsgeschichte bleiben. Denn wie immer man seine Biographie ansetzen mag, Luther markiert eine „Wegscheide der Weltgeschichte“ (Gottfried Schramm) und ist daher für die Gegenwart unmittelbar relevant: Ohne ihn wären wir, und zwar auch die Nichtchristen im „Westen“ nicht, was wir geworden sind! In der damit eröffneten entwicklungsgeschichtlichen Perspektive nimmt die Reformations- und Konfessionalisierungsforschung Luther und die Reformation heute allerdings deutlich anders wahr als in der Nachfolge des für solche Fragen lange kanonischen Religionssoziologen Max Weber. Denn zum einen können Luther und Wittenberg keineswegs für einen modernisierenden Aufbruch gegen ein stagnierendes, zum Wandel unfähiges Papsttum stehen. Im Gegenteil, sie waren Reaktion auf einen gewaltigen Modernisierungsschub, den die Kurie, der Kirchenstaat und das Papsttum seit Mitte des 14. Jahrhunderts erfahren hatten. Als ausgangs des 15. Jahrhunderts mit dem Konziliarismus die „Ständeopposition“ der Bischöfe niedergerungen war, konnte der Kirchenstaat als eines der ersten frühmodernen Staatswesen Europas gelten – regiert vom Papst als einem der ersten frühmodernen, souveränen Monarchen Europas, verwaltet von einer Bürokratie, die ihresgleichen suchte, Vorbild im Rechtswesen, der Diplomatie und im höfischen Zeremoniell, das noch auf Jahrhunderte hin das kulturelle wie politische Leben Europas prägte. Das alles wird von der protestantisch geprägten Geschichtswissenschaft notorisch unterschätzt und in ihrem Bild von der Reformation nicht hinreichend beachtet.

 

Zum anderen, und das ist der uns heute schwer zugängliche Kern der universalgeschichtlichen Bedeutung Luthers, erfolgte die Wittenberger Reaktion auf die von Rom ausgehende „Modernisierungskrise“ gerade nicht als eine weitere, die römische übertrumpfende Modernisierung. Vielmehr kam es durch Luther und die von ihm ausgelöste reformatorische Bewegung zur Reaktivierung jener Kraft, die der römische Renaissancetyp der Modernisierung weitgehend abgeschafft hatte, nämlich der Religion als heilsgeschichtlich gerichtetem Glauben. Das hatte weit reichende, eben weltgeschichtliche Konsequenzen, die durchaus ihrerseits den Modernisierungs- und Wandlungsprozess der europäischen Neuzeit vorantrieben, aber in einer anderen, spezifischen Weise: Die Religion kehrte mit ganzer Macht als Leitkraft in das private und öffentliche Leben Europas zurück. Und insofern ist es berechtigt, Luther im Jahr 2017 als einen Vater im Glauben (Peter Manns) der gesamten Christenheit zu feiern, auch wenn sich diese infolge der Reformation in verschiedene Konfessionskirchen differenzierte.

 

Luthers Rücklenken zur heilsgeschichtlich verstandenen Religion bedeutete indes keine De-Modernisierung, wie das aus dieser Wende resultierende konfessionelle Zeitalter im Vergleich zur Rationalität und Freiheit der Renaissanceepoche gelegentlich abwertend charakterisiert wird. Luthers Sicherung der Religion für die Neuzeit bedeutete vielmehr das Einlenken in einen von der Religion wesentlich mitgeprägten Modernisierungskanal, in dem eine weit größere und qualitativ andere Dynamik freigesetzt wurde, als es dem verweltlichten Renaissancepapsttum je möglich gewesen wäre. Von dieser lutherischen Zentrierung auf die Religion profitierte schließlich auch die römische Kirche. In der tridentinischen Reform wurde sie zur neuzeitlichen katholischen Konfessionskirche, in der die Religion wieder im Zentrum stand und die dadurch in ganz ähnlicher Weise wie die protestantischen Kirchen einen spezifischen Beitrag zur frühmodernen Dynamisierung leisten konnte.

Die großen Erfolge, die die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mit ihren Inszenierungen des Religiösen vor allem unter der Jugend feiern, wären ohne die von Luther gegen das Renaissancepapstum erzwungene Wende zurück zum religiösen Kern kaum vorstellbar. Luther als Garant neuzeitlicher Religiosität – unter dieser Perspektive können sich somit auch die katholische und alle anderen christlichen Kirchen 2017 eingeladen fühlen, zusammen mit den Lutheranern den Reformator wo nicht zu feiern, so doch zu würdigen.

 

Unter den nicht intendierten, gleichsam überschüssigen Wirkungen der Reformation, die bis heute unsere Welt bestimmen, und zwar in wachsendem Maße, sind die Differenzierung und die Säkularisierung besonders gewichtig: Luther stand mitten in einem tief greifenden Prozess der Differenzierung. Er selbst hat diese Entwicklung gewaltig beschleunigt, indem sich infolge seiner Reformation die societas Christiana religiös und kulturell in unterschiedliche Konfessionen und Denominationen differenzierte. Der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte negative Begriff „Spaltung“ ist zwar zeitgenössisch; für eine analytisch-wissenschaftliche Bestimmung der allgemeingeschichtlichen Leistung ist er aber wenig geeignet. Indem die Konfessionalisierung der europäischen Christenheit den Konfessionsstaat hervorbrachte, trieb sie zugleich die staatliche Differenzierung der Christenheit voran, bis hin zur Geburt eines internationalen Systems rechtlich gleicher Partikularstaaten im Feuersturm der europäischen Konfessionskriege. Es war Luthers in gewisser Weise tragisches Schicksal, als Geburtshelfer der geistigen, kulturellen und auch politischen Differenzierung Europas gedient und damit zugleich der pluralistischen und liberalen Moderne Bahn gebrochen zu haben. Gewollt hatte er indes anderes, nämlich ganz Ähnliches wie seine Hauptkontrahenten Erasmus und Kaiser Karl V. – wie Erasmus, der die aufbrechende militante Partikularität der sich separierenden Nationen geißelte und ihr die friedvolle Universalität des populus Christianus entgegenhielt; wie Karl V., der das in Einzelstaaten auseinander tretende Europa mit der universalen Kaiseridee zusammenzuhalten sucht. Wie dem Kaiser das einigende politische Band, so war Luther das einheitliche religiöse Band der Christenheit Lebensaufgabe. Und da das in Alteuropa, wo Religion immer zugleich als vinculum societatis, Frieden stiftendes Band der Gesellschaft, verstanden wurde, zwei Aspekte derselben Sache waren, wurde der Fundamentalkonflikt zwischen Reformator und Kaiser in dem Moment unvermeidlich, als das neu gewobene religiöse Band die theologischen und kirchenrechtlichen Grundlagen des kaiserlichen Politikbandes in Frage stellte. Indes zeigten sich beide universalistisch gedachten Bänder – das politische des Kaisers ebenso wie das religiöse des Reformators – als ungeeignet, die aufbrechende Differenzierung der Christenheit oder Europas zu bändigen und im Innern der Staaten oder zwischen ihnen ein friedvolles Zusammenleben zu garantieren.

„Luther 2017 meint somit einen Gedenkort“

Was 2017 wirkungsgeschichtlich Luther zuzuschreiben ist – der Protestantismus und die von Rom unabhängigen Landes- und Nationalkirchen, war somit das Ergebnis seines kirchenpolitischen Scheiterns, genauso wie die partikulare und säkulare europäische Staatenwelt der Neuzeit, die beim 500. Geburtstag Karls V. im Jahr 2000 als dessen Erbe gefeiert wurde, nicht Resultat seiner Intentionen, sondern seines politischen Scheiterns war. Dennoch gehört beides zum unverzichtbaren Kern der Moderne, auf der auch noch unsere Gegenwart fußt – die politische Vielfalt und Freiheit, die in Europa immer noch die Despotie eines erdrückenden Einzelstaates verhindert hat, ebenso wie die religiöse, schließlich weltanschauliche Pluralität, die mit Luthers Tat ihren Lauf nahm. – „Luther 2017“ meint somit einen Gedenkort, der keineswegs nur Christen und auch nicht nur Deutsche betrifft.

 

Die von Luther wesentlich ermöglichte Re-Implantation von Religion und Glauben in den europäischen Prozess der Zivilisation hat ohne Zweifel auf Generationen hin auch bösen Streit, mörderische Kriege und tiefes menschliches Leid gebracht. Zugleich hat diese Renaissance des Religiösen aber ganz entscheidend das Profil des neuzeitlichen Europa mitgeprägt. Nach Überwindung des Konfessionsfundamentalismus der Glaubenskriege galt nicht mehr die noch von Hugo Grotius aufgemachte Alternative, entweder „ein guter Christ“ oder „ein guter Bürger“ zu sein. Beides konnte und musste zusammengehen – nicht zuletzt dank Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die auch die säkulare Welt christlichem Handeln erschloss. Vor allem aber hatte die lutherische Zentrierung auf das Heil zu einer Neubelebung der Europa eigentümlichen, in des Renaissancekirche aber weitgehend abhanden gekommenen Typus von Säkularisierung geführt. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die neuzeitliche „Verweltlichung“ nicht Kappen der religiösen Emphase meint, sondern deren Transformation in die weltlich-gesellschaftliche Ordnung, die dadurch besondere Legitimität und Dignität erhält. Das belegt nichts deutlicher als das Symbol der Friedenstaube: Den Westfälischen Friede, der 1648 die neue religiöse und politische Differenzierung Europas völkerrechtlich sanktionierte, repräsentierte sie noch mit dem Ölzweig im Schnabel als den Frieden zwischen Gott und den Menschen. Der Friedenstaube unserer Tage ist solche Transzendenz fremd; gleichwohl hat ihr die Säkularisierung religiöse Emphase verliehen, die der Forderung nach weltlichem Frieden zwischen den Menschen besondere Legitimität und Nachdruck gibt.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 03/2009 erschienen.


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