Jüdische Bildung

Der Tradition verbunden – In der Moderne leben

Der Zentralrat der Juden hat unlängst entschieden, eine Jüdische Akademie in Frankfurt am Main zu gründen. Mit Unterstützung der Stadt Frankfurt, des Landes Hessen und des Bundes erhält somit auch die jüdische Gemeinschaft einen Ort, an dem sie sich mit den politischen, kulturellen, religiösen oder sozialen Herausforderungen der modernen Lebenswelt auseinandersetzen und zugleich mit Repräsentanten aller gesellschaftlichen Gruppen in einen kommunikativen Austausch treten kann.

 

Wozu eine Jüdische Akademie?
Mit der Einwanderung von über zweihunderttausend Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zählt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu den zahlenmäßig größten in Europa. Mit der gewaltigen Herausforderung für die jüdischen Zuwanderer, sich in die Gesellschaft und in den jüdischen Gemeinden zu integrieren wächst auch deren Bedarf nach politischer, kultureller oder religiöser Orientierung. Akademien dienen grundsätzlich dem Zweck, durch öffentliche bzw. halböffentliche Veranstaltungen wie Podiums-
diskussionen, Seminare und Workshops die Öffentlichkeit sowie Personen aus öffentlichem Leben, aus Wissenschaft, Kunst und intellektuellem Diskurs mit den politischen und intellektuellen Perspektiven der jeweils eigenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Orientierung vertraut zu machen und einen Personenkreis dafür zu gewinnen, langfristig im Rahmen der jeweiligen Organisationen und Institutionen mitzuarbeiten. Dabei haben Akademien zugleich die Aufgabe, Fragen und Probleme, die in Verbänden, Institutionen oder Parteien aufgrund ihrer Brisanz noch nicht entscheidungsreif sind, im Vorfeld zu diskutieren bzw. Kontrahenten aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen. Die jüdische Religionsgemeinschaft hatte bisher an dieser Form der öffentlichen Partizipation und Intervention kaum Anteil.

 

Historische und gegenwärtige Voraussetzungen jüdischer Bildungsarbeit
Nachdem die europäischen Gesellschaften tiefe politische und kulturelle Transformationen erfahren haben, besteht zunehmend die Notwendigkeit, ein neues Selbstverständnis innerhalb der sich verändernden Kulturen zu bilden und ihre Grundlagen kritisch zu hinterfragen. Diese Aufgabe nimmt jüdische Bildungsarbeit im Blick auf Tradition und Gegenwart des Judentums in Deutschland wahr und analysiert deren Rolle in der deutschen, europäischen und transatlantischen Öffentlichkeit. Das Judentum ist eine der geistigen Säulen Europas: Als wesentlicher Gegenpart des Christentums prägte es die kulturelle, politische und ökonomische Geschichte vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Für die Aufklärung waren die Beteiligung von Juden und die Auseinandersetzung mit dem Judentum von herausragender Bedeutung. Das jüdische Bildungsverständnis sieht sich besonders dem Postulat einer aktiven Toleranz und eines gleichberechtigten Miteinanders von Kulturen verpflichtet. Die jüdischen Bildungsinstitutionen wollen gerade im Zeitalter der Globalisierung ihren Beitrag dazu leisten, dass die deutsche Gesellschaft, in der sie wirkt, kulturelle und religiöse Pluralität akzeptiert. Weiterhin sieht die jüdische Bildungsarbeit ihre Aufgabe – nach dem in der Schoah erfahrenen Zivilisationsbruch – in der kreativen und kritischen Aneignung des religiösen und kulturellen Erbes des europäischen und besonders des deutschen Judentums. Sie ist bestrebt, dieses Erbe in der Zukunftsdebatte sowohl in den jüdischen Gemeinden als auch in der deutschen wie der europäischen Gesellschaft einzubringen. Zugleich möchte sie die Traditionen des in der ehemaligen Sowjetunion erwachsenen Judentums, die durch die Zuwanderung der russischsprachigen Juden in den jüdischen Gemeinden zur Geltung kommen, würdigen und aufnehmen. Jüdische Bildung ist vor dem Hintergrund der kulturellen und religiösen Vielfalt der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft vor die Aufgabe gestellt, unterschiedlichen Bildungsverständnissen und -horizonten gerecht zu werden: So stehen religiös begründete Zugänge zu Bildung und Erziehung neben bildungsbürgerlich, säkular geprägten oder religionsfernen Ansätzen. Die Vermittlung eines aufgeklärten Judentums, in dem diese unterschiedlichen Traditionen ihren begründeten Platz haben und zugleich darum ringen, Juden unterschiedlicher Altersgruppen überzeugende Orientierungsangebote zu unterbreiten, wird den jüdischen Bildungsinstitutionen übertragen, die im Rahmen ihrer pädagogischen Praxis die Herausbildung jüdischer Identitäten in der Moderne vertiefen.

Doron Kiesel
Doron Kiesel ist wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.
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