Jüdische Bildung

Der Tradition verbunden – In der Moderne leben

Aufgaben und Perspektiven jüdischer Bildungsarbeit
Im Einzelnen lassen sich unter anderem folgende Einrichtungen in über 100 jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik auf diese Aufgaben ein: jüdische Kindergärten, Grundschulen, Gymnasien, Jugend- und Seniorenzentren. Weiterhin werden vielfältige Aspekte jüdischen Wissens und jüdischer Traditionen auf Jugendfreizeiten, Treffpunkten für Schoah-Überlebende, Kulturforen sowie auf Seminaren und Tagungen unterschiedlicher jüdischer Träger thematisiert. Exemplarisch lassen sich somit einige Schwerpunkte jüdischer Bildungsarbeit benennen:

 

  • Das Judentum – eine lebendige Religion in Geschichte und Gegenwart
    Eine Vielfalt religiöser Strömungen und Liturgien von der Orthodoxie über das Reformjudentum bis zu chassidischen Gruppen formen das jüdische Leben weltweit. Jüdische Bildungsarbeit hat den Anspruch, die innerjüdische Pluralität zum Thema zu machen und eine Plattform anzubieten, die sich mit den Positionen und Traditionen der unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums auseinandersetzt.
  • Der Integrationsprozess in den jüdischen Gemeinden
    Die große Herausforderung und die Aufgabe, vor der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiterhin steht, ist die Integration jüdischer Zuwanderer aus Staaten der GUS sowie das Zusammen-wachsen der älteren Gemeinden mit der künstlerisch und intellektuell anspruchsvollen zweiten Generation der Immigranten. Es ist diese Generation, die das Bild des künftigen deutschen Juden-tums prägen wird. Diese entstehende Synthese lässt sich allerdings ohne die intensive Auseinander-setzung mit der jahrhundertalten Geschichte der russischsprachigen Juden kaum verstehen. Der aktive Beitrag einer jüdischen Bildungsarbeit zur Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland besteht darin, Vertretern jüdischer Gruppen unterschiedlicher Herkunft ein Forum der Auseinandersetzung mit kulturellen, politischen oder religiösen Themen zu bieten. Die russisch-jüdische Immigration nach Deutschland ist zugleich Anlass, den besonderen Formen und Leistungen von Migrations- und Diasporakulturen Beachtung zu schenken.
  • Das Verhältnis zu Israel
    Die Verbindung zu dem Staat Israel ist für die meisten Juden sowie für die in Deutschland ansässigen jüdischen Institutionen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Vor diesem Hintergrund sieht sich der jüdische Bildungsauftrag mit der Pflege und Vertiefung bestehender Beziehungen mit israelischen – im Bildungsbereich engagierten – Organisationen und Institutionen versehen und trägt zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den Belangen und Interessen des Staates Israel und den dort vertretenen politischen Positionen im Hinblick auf die vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Vorstellungen, die in der israelischen Gesellschaft vorherrschen, bei.
  • Aufklärung über die Schoah
    Die Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure ist noch nicht in allen wesentlichen Dimensionen erforscht. Eine Aufgabe jüdischer Bildungsarbeit ist es, neue substanzielle Ergebnisse historischer Forschung zur Debatte zu stellen. Sie wird auch an der für die politische Bildung Deutschlands entscheidenden Diskussion teilnehmen, wie die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen einer in Deutschland lebenden Jugend vermittelt werden kann, die in vielen Fällen einen Migrationshintergrund aufzuweisen hat.
  • Ästhetik, Kunst, Film und Literatur
    Die Bandbreite jüdischen kulturellen Schaffens findet ihren Ausdruck in nahezu allen künstlerischen Bereichen der modernen Gesellschaft. Diese tragen dazu bei, einen Einblick in eine von Juden geführte ästhetische und literarische Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt in Deutschland, Europa, den USA und Israel zu gewinnen. Ein jüdisches Bildungskonzept sieht vor, als Forum entsprechender künstlerischer Werke aus der jüdischen Welt zu fungieren. Jüdische Philosophie und Ethik, die Lehren und Ideen des rabbinischen und talmudischen Judentums haben einen wesentlichen Beitrag zum modernen jüdischen Denken und seiner Kultur geleistet. Jüdische Philosophie und Ethik basieren auf diesem Denken und prägen die zeitgenössischen Diskurse und existenziellen Fragestellungen. Im Rahmen der Begleitung jüdischer Bildungsprozesse wird notwendigen sinn- und identitätsstiftenden Debatten Raum gegeben, um die Grundlagen jüdischen Denkens und Handelns innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu erweitern.

 

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland verspricht sich von diesen ausdifferenzierten und vielfältigen Bildungsangeboten, für ihre Mitglieder einen Beitrag zur Stärkung der jüdischen Identität zu leisten, und somit einen festen Platz innerhalb der pluralen deutschen Gesellschaft einnehmen zu können.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im April 2018.

Doron Kiesel
Doron Kiesel ist wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.
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