Doron Kiesel - 6. Juli 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturelle Erwachsenenbildung

Jüdische Bildung


Der Tradition verbunden – In der Moderne leben

Der Zentralrat der Juden hat unlängst entschieden, eine Jüdische Akademie in Frankfurt am Main zu gründen. Mit Unterstützung der Stadt Frankfurt, des Landes Hessen und des Bundes erhält somit auch die jüdische Gemeinschaft einen Ort, an dem sie sich mit den politischen, kulturellen, religiösen oder sozialen Herausforderungen der modernen Lebenswelt auseinandersetzen und zugleich mit Repräsentanten aller gesellschaftlichen Gruppen in einen kommunikativen Austausch treten kann.

 

Wozu eine Jüdische Akademie?
Mit der Einwanderung von über zweihunderttausend Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zählt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu den zahlenmäßig größten in Europa. Mit der gewaltigen Herausforderung für die jüdischen Zuwanderer, sich in die Gesellschaft und in den jüdischen Gemeinden zu integrieren wächst auch deren Bedarf nach politischer, kultureller oder religiöser Orientierung. Akademien dienen grundsätzlich dem Zweck, durch öffentliche bzw. halböffentliche Veranstaltungen wie Podiums-
diskussionen, Seminare und Workshops die Öffentlichkeit sowie Personen aus öffentlichem Leben, aus Wissenschaft, Kunst und intellektuellem Diskurs mit den politischen und intellektuellen Perspektiven der jeweils eigenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Orientierung vertraut zu machen und einen Personenkreis dafür zu gewinnen, langfristig im Rahmen der jeweiligen Organisationen und Institutionen mitzuarbeiten. Dabei haben Akademien zugleich die Aufgabe, Fragen und Probleme, die in Verbänden, Institutionen oder Parteien aufgrund ihrer Brisanz noch nicht entscheidungsreif sind, im Vorfeld zu diskutieren bzw. Kontrahenten aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen. Die jüdische Religionsgemeinschaft hatte bisher an dieser Form der öffentlichen Partizipation und Intervention kaum Anteil.

 

Historische und gegenwärtige Voraussetzungen jüdischer Bildungsarbeit
Nachdem die europäischen Gesellschaften tiefe politische und kulturelle Transformationen erfahren haben, besteht zunehmend die Notwendigkeit, ein neues Selbstverständnis innerhalb der sich verändernden Kulturen zu bilden und ihre Grundlagen kritisch zu hinterfragen. Diese Aufgabe nimmt jüdische Bildungsarbeit im Blick auf Tradition und Gegenwart des Judentums in Deutschland wahr und analysiert deren Rolle in der deutschen, europäischen und transatlantischen Öffentlichkeit. Das Judentum ist eine der geistigen Säulen Europas: Als wesentlicher Gegenpart des Christentums prägte es die kulturelle, politische und ökonomische Geschichte vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Für die Aufklärung waren die Beteiligung von Juden und die Auseinandersetzung mit dem Judentum von herausragender Bedeutung. Das jüdische Bildungsverständnis sieht sich besonders dem Postulat einer aktiven Toleranz und eines gleichberechtigten Miteinanders von Kulturen verpflichtet. Die jüdischen Bildungsinstitutionen wollen gerade im Zeitalter der Globalisierung ihren Beitrag dazu leisten, dass die deutsche Gesellschaft, in der sie wirkt, kulturelle und religiöse Pluralität akzeptiert. Weiterhin sieht die jüdische Bildungsarbeit ihre Aufgabe – nach dem in der Schoah erfahrenen Zivilisationsbruch – in der kreativen und kritischen Aneignung des religiösen und kulturellen Erbes des europäischen und besonders des deutschen Judentums. Sie ist bestrebt, dieses Erbe in der Zukunftsdebatte sowohl in den jüdischen Gemeinden als auch in der deutschen wie der europäischen Gesellschaft einzubringen. Zugleich möchte sie die Traditionen des in der ehemaligen Sowjetunion erwachsenen Judentums, die durch die Zuwanderung der russischsprachigen Juden in den jüdischen Gemeinden zur Geltung kommen, würdigen und aufnehmen. Jüdische Bildung ist vor dem Hintergrund der kulturellen und religiösen Vielfalt der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft vor die Aufgabe gestellt, unterschiedlichen Bildungsverständnissen und -horizonten gerecht zu werden: So stehen religiös begründete Zugänge zu Bildung und Erziehung neben bildungsbürgerlich, säkular geprägten oder religionsfernen Ansätzen. Die Vermittlung eines aufgeklärten Judentums, in dem diese unterschiedlichen Traditionen ihren begründeten Platz haben und zugleich darum ringen, Juden unterschiedlicher Altersgruppen überzeugende Orientierungsangebote zu unterbreiten, wird den jüdischen Bildungsinstitutionen übertragen, die im Rahmen ihrer pädagogischen Praxis die Herausbildung jüdischer Identitäten in der Moderne vertiefen.


Aufgaben und Perspektiven jüdischer Bildungsarbeit
Im Einzelnen lassen sich unter anderem folgende Einrichtungen in über 100 jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik auf diese Aufgaben ein: jüdische Kindergärten, Grundschulen, Gymnasien, Jugend- und Seniorenzentren. Weiterhin werden vielfältige Aspekte jüdischen Wissens und jüdischer Traditionen auf Jugendfreizeiten, Treffpunkten für Schoah-Überlebende, Kulturforen sowie auf Seminaren und Tagungen unterschiedlicher jüdischer Träger thematisiert. Exemplarisch lassen sich somit einige Schwerpunkte jüdischer Bildungsarbeit benennen:

 

  • Das Judentum – eine lebendige Religion in Geschichte und Gegenwart
    Eine Vielfalt religiöser Strömungen und Liturgien von der Orthodoxie über das Reformjudentum bis zu chassidischen Gruppen formen das jüdische Leben weltweit. Jüdische Bildungsarbeit hat den Anspruch, die innerjüdische Pluralität zum Thema zu machen und eine Plattform anzubieten, die sich mit den Positionen und Traditionen der unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums auseinandersetzt.
  • Der Integrationsprozess in den jüdischen Gemeinden
    Die große Herausforderung und die Aufgabe, vor der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiterhin steht, ist die Integration jüdischer Zuwanderer aus Staaten der GUS sowie das Zusammen-wachsen der älteren Gemeinden mit der künstlerisch und intellektuell anspruchsvollen zweiten Generation der Immigranten. Es ist diese Generation, die das Bild des künftigen deutschen Juden-tums prägen wird. Diese entstehende Synthese lässt sich allerdings ohne die intensive Auseinander-setzung mit der jahrhundertalten Geschichte der russischsprachigen Juden kaum verstehen. Der aktive Beitrag einer jüdischen Bildungsarbeit zur Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland besteht darin, Vertretern jüdischer Gruppen unterschiedlicher Herkunft ein Forum der Auseinandersetzung mit kulturellen, politischen oder religiösen Themen zu bieten. Die russisch-jüdische Immigration nach Deutschland ist zugleich Anlass, den besonderen Formen und Leistungen von Migrations- und Diasporakulturen Beachtung zu schenken.
  • Das Verhältnis zu Israel
    Die Verbindung zu dem Staat Israel ist für die meisten Juden sowie für die in Deutschland ansässigen jüdischen Institutionen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Vor diesem Hintergrund sieht sich der jüdische Bildungsauftrag mit der Pflege und Vertiefung bestehender Beziehungen mit israelischen – im Bildungsbereich engagierten – Organisationen und Institutionen versehen und trägt zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den Belangen und Interessen des Staates Israel und den dort vertretenen politischen Positionen im Hinblick auf die vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Vorstellungen, die in der israelischen Gesellschaft vorherrschen, bei.
  • Aufklärung über die Schoah
    Die Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure ist noch nicht in allen wesentlichen Dimensionen erforscht. Eine Aufgabe jüdischer Bildungsarbeit ist es, neue substanzielle Ergebnisse historischer Forschung zur Debatte zu stellen. Sie wird auch an der für die politische Bildung Deutschlands entscheidenden Diskussion teilnehmen, wie die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen einer in Deutschland lebenden Jugend vermittelt werden kann, die in vielen Fällen einen Migrationshintergrund aufzuweisen hat.
  • Ästhetik, Kunst, Film und Literatur
    Die Bandbreite jüdischen kulturellen Schaffens findet ihren Ausdruck in nahezu allen künstlerischen Bereichen der modernen Gesellschaft. Diese tragen dazu bei, einen Einblick in eine von Juden geführte ästhetische und literarische Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt in Deutschland, Europa, den USA und Israel zu gewinnen. Ein jüdisches Bildungskonzept sieht vor, als Forum entsprechender künstlerischer Werke aus der jüdischen Welt zu fungieren. Jüdische Philosophie und Ethik, die Lehren und Ideen des rabbinischen und talmudischen Judentums haben einen wesentlichen Beitrag zum modernen jüdischen Denken und seiner Kultur geleistet. Jüdische Philosophie und Ethik basieren auf diesem Denken und prägen die zeitgenössischen Diskurse und existenziellen Fragestellungen. Im Rahmen der Begleitung jüdischer Bildungsprozesse wird notwendigen sinn- und identitätsstiftenden Debatten Raum gegeben, um die Grundlagen jüdischen Denkens und Handelns innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu erweitern.

 

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland verspricht sich von diesen ausdifferenzierten und vielfältigen Bildungsangeboten, für ihre Mitglieder einen Beitrag zur Stärkung der jüdischen Identität zu leisten, und somit einen festen Platz innerhalb der pluralen deutschen Gesellschaft einnehmen zu können.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im April 2018.


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