Zwischen Dingen und Daten

Was ist digitale Kultur?

Mit der Weiterentwicklung des Computers von einer reinen Rechenmaschine zu einer Bild-Ton- und Sprachmaschine entstand die neue Welt der Daten. Alle Objekte, Wörter, Töne und Bilder können nun auf Zahlen abgebildet und aus Zahlen konstruiert werden. Damit entstand ein Code, mit dessen Hilfe Menschen nicht nur mit Menschen kommunizieren konnten, sondern auch mit Maschinen. Es entstanden die Maschinen- und Programmiersprachen. Daraus ergaben sich die entscheidenden Veränderungen der Kulturtechnik.

 

In der analogen Welt konnten die Wörter und die Bilder nicht in Dinge zurückverwandelt werden. Denken Sie an René Magrittes Gemälde „La trahison des images“ von 1929, auf dem eine Pfeife abgebildet ist, worunter der Schriftzug abgebildet ist „Ceci n’est pas une pipe“ – dies ist keine Pfeife. In der analogen Welt der Kulturtechnik der verbalen und visuellen Sprache herrscht das Prinzip der Irreversibilität. Durch die Digitalisierung werden alle Wörter, Bilder, Töne in Ziffernfolgen, d. h. in Daten, verwandelt und erstmals können diese Daten auch in Töne, Bilder und Wörter zurückverwandelt werden. Es herrscht in der digitalen Kultur erstmals in der Geschichte der Menschheit das Prinzip der Reversibilität. Mithilfe des 3D-­Drucks können Daten sogar in Dinge verwandelt werden. Die Beziehungen zwischen Daten und Wörtern, Bildern und Tönen sind in der digitalen Welt reversibel. Damit ist die Mathematik von einer Sprache der Natur auch zu einer Sprache der Kultur geworden.

 

Die digitale Kulturtechnik hat aber noch eine weitere Revolution initiiert. Die bisherige Kultur ist nämlich auf einer zweidimensionalen Notation aufgebaut: Die Schrift, ebenso wie Noten, Zahlen und Zeichen, werden auf Papier, auf einer zweidimensionalen Fläche, geschrieben und gespeichert. Mit dem CAD, dem Computer-aided design, entsteht erstmals die Möglichkeit der Simulation einer dreidimensionalen Notation. Ohne diese „dreidimensionale Notation“ gäbe es keine Architektur von Zaha Hadid oder Frank O. Gehry. Die digitalen Kulturtechniken führen uns an die Schwelle einer dreidimensionalen Notation. Ich selbst habe bereits 2018 mit Adam Słowik und Christian Lölkes ein geometrisches Objekt hergestellt, ausgestattet mit Smartphone-Technologie, dessen Bewegungen im Raum auf einem Bildschirm alle 26 Buchstaben des Alphabets erzeugen. Hat Leibniz alle Zahlen der Welt auf zwei Ziffern reduziert, habe ich mit meinen Kollegen alle Zeichen der Welt auf ein einziges geometrisches 3D-Gebilde reduziert. Die zukünftigen Konsequenzen der dreidimensionalen Notation, vom 3D-Kino über den 3D-Druck bis zum mehrdimensionalen Zahlenraum, sind im Augenblick schwer vorstellbar. Die Evolution hat nämlich unser Gehirn bei der Ausbildung zur Fähigkeit räumlicher Vorstellungen extrem vernachlässigt. Die meisten Menschen können zwar ein Schuhband binden, doch fällt es ihnen schwer, diesen Vorgang in Einzelschritten zeichnerisch darzustellen.

 

Neben der Reversibilität und dreidimensionalen Notation offerieren digitale Kulturtechniken eine neue Form der Ontologie, die ich eine operative Ontologie nenne. Ein Ergebnis dieser neuen Ontologie ist bereits in den Alltag eingedrungen. Normalerweise schreibt der Mensch Zahlen und Rechenvorschriften wie Addition als + auf ein Papier, rechnet selbst im Kopf und schreibt das Ergebnis der Rechenoperation wiederum auf Papier. Beim Taschenrechner drückt der Mensch auf die Tasten mit den Ziffern und Rechenvorschriften, aber das Ergebnis liefert die Maschine selbstständig. Nicht der Mensch rechnet, sondern die Maschine rechnet für den Menschen: Mentalismus und Mechanismus sind ident. Daraus können wir lernen: Nicht alles, was existiert, kann gedacht werden. Und nicht alles, was gedacht werden kann, kann gesagt bzw. formalisiert bzw. codiert werden. Es gibt also mehr als das, was wir denken, wissen und sagen können. Aber der Teil des Seins, der gedacht werden kann, und der Teil des Denkens, der gesagt werden kann, können formalisiert werden. Digitale Philosophie behauptet nicht, dass alles formalisierbar sei. Doch alles, was formalisiert werden kann, kann berechnet werden. Und alles, was berechnet werden kann, kann mechanisiert werden. Das ist der Kern der digitalen Kultur. Unsere Lebenswelt wird also in wesentlichen Teilen aus einer künstlichen, von Menschen gemachten Datenwelt bestehen und digitale Codes bzw. Kulturtechniken werden die primären Operatoren sein.

 

Die historischen klassischen Codes, wie Sprache und Partitur, sind nur Anweisungen und bedürfen der Menschen zur Ausführung. Die grundlegende noetische Wende der digitalen Kulturtechnik besteht darin, dass Maschinencodes Anweisung und Ausführung in einem sind. Der Mensch wird sich daran gewöhnen müssen, dass in Zukunft nicht nur Tiere, Pflanzen und Objekte Mitwesen sind, sondern auch Maschinen zu gleichrangigen, wenn nicht superioren Mitwesen aufsteigen werden. Das ist für viele die Drohung des auf Künstlicher Intelligenz aufgebauten Transhumanismus, die nächste Kränkung des „gottähnlichen Wesens“ Mensch nach Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Peter Weibel
Peter Weibel ist künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM).
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