Zwischen Dingen und Daten

Was ist digitale Kultur?

In der analogen Welt gibt es vor allem Dinge. In der digitalen Welt gibt es vor allem Daten. Die digitale Kultur ist das Ergebnis von drei Abstraktionsstufen der humanen Evolution. In der ersten Abstraktionsstufe lernten die Menschen, den Dingen, Tieren und Pflanzen Laute zuzuordnen. Dieser kontinuierliche Lautstrom verwandelte sich durch den Akt einer Sequenzierung in diskrete visuelle Zeichen. Die Schrift entstand – und mit ihr eine sprachbasierte Zivilisation, aufgebaut auf den Beziehungen zwischen den Wörtern und Dingen, die für Jahrtausende unsere Kultur bestimmten. Noch heute tragen die Bücher der Philosophen Titel wie „Word and Object“ von Willard Van Orman Quine, 1960, oder „Les mots et les choses“ von Michel Foucault, 1966. Die Sprache ist demnach das Instrument, mit dem die Welt geordnet wird. Ludwig Wittgenstein behauptet 1921: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ – „Tractatus logico-philosophicus“. Die Philosophie bewegt sich in der Welt der Wörter, als wäre dies die Welt der Dinge. In der Tat ist die Sprache eine revolutionäre Kulturtechnik, das erste Instrument, mit dem die Menschen die Welt erklären und gestalten konnten. Die Schriftsprache ist die erste und fundamentale Stufe der Abstraktion in der Evolution, die uns vom Tier unterscheidet.

 

Die zweite Stufe der Abstraktion begann, als die Menschen den Dingen nicht nur Namen gaben, sondern sich auch Bilder von den Dingen, Lebewesen und Pflanzen machten. Dies führte zur Kulturtechnik der Bildtechniken: von der Höhlenmalerei zur Fotografie und den Bewegtbildmedien Film, TV, Video und Computer. Die Welt der Wörter und die Welt der Bilder verselbstständigten sich im Laufe der Zeit und wurden zu autonomen Welten: zur Philosophie, zur Literatur und zur bildenden Kunst, zur visuellen Kultur.

 

In der dritten und bislang höchsten Stufe der Abstraktion, d. h. der Symbolverarbeitung, haben die Menschen nicht nur den Dingen, sondern auch den Wörtern und Bildern Zahlen zugeordnet. Auch die Zahlen schufen ein selbständiges abstraktes Reich, die Mathematik und Physik, das über die Existenz von Sinnesdaten hinausging, denn die Wissenschaft beginnt dort, wo natürliche Wahrnehmung aufhört.

 

Der alphabetische Code war für Jahrtausende der Primärcode der menschlichen Kommunikation, gemeinsam mit dem visuellen Code. In der Kommunikationswissenschaft ist jede Sprache ein Code. Heute, in der digitalen Kultur, dominiert der numerische Code. Dieser besteht aus den Ziffern 1 bis 9 und 0. Samuel F.B. Morse hat bereits gezeigt, dass der visuelle Code aus 26 Buchstaben durch zwei Signale, kurz oder lang, ersetzt werden kann. Jeder Code kann also in einen anderen Code übersetzt werden. Wie aus der endlichen Menge von 26 Zeichen eine unendliche Menge an Sätzen produziert werden kann, so kann mit jedem finiten Code eine unendliche Informationsmenge codiert werden. G.W. Leibniz konnte, ähnlich wie Morse 1697 den numerischen Code von zehn Ziffern auf die beiden Ziffern 0 und 1 reduzieren, d. h. auf den binären Code. Diese Entdeckung, dass man mit zwei Ziffern alle Zahlen und alle Rechenvorgänge darstellen kann, ist zentral für die digitale Kultur.

 

Allerdings waren noch weitere geistige Überlegungen und technische Erfindungen für die digitale Kultur notwendig. Galileo Galilei (1623) und Isaac Newton (1686) haben mit ihrem Diktum „Die Sprache der Natur ist die Sprache der Mathematik“ die Naturwissenschaften erfolgreich zu einer mathematischen Disziplin gemacht. J. L. Lagrange hat 1788, ein Jahrhundert später, das Universum in analytische Mathematik verwandelt, d. h. alle physikalischen Vorgänge konnten vollständig in algebraische Operationen überführt werden. George Boole hat die Algebraisierung der Physik von Lagrange aufgegriffen und zur Algebraisierung der Logik und des Denkens weitergeführt – „The Mathematical Analysis of Logic“, 1847; „An Investigation of the Laws of Thought“, 1854. Mit der Boole’schen Algebra konnten alle logischen Operationen in mathematische Operationen verwandelt werden. Also bereits im 19. Jahrhundert wurden, unbemerkt von der kulturellen Öffentlichkeit, Physik und Mechanik, aber auch Logik und Denken in Mathematik verwandelt, d. h. in numerische Operationen. Damit wurde der bis dahin scheinbar nutzlose Vorschlag von Leibniz, die Darstellung aller Rechenoperationen durch den binären Code von zwei Ziffern, zum Fundament einer neuen Kulturtechnik, nämlich der Digitalisierung.

 

Es bedurfte allerdings eines Ingenieurs und Informationstheoretikers, um die technischen Grundlagen für die digitale Kultur zu schaffen. Claude Shannon zeigte, dass die Boole’sche Algebra, die Aussagenlogik, die auf dem binären Code von Leibniz aufbaute, und den Wahrheitswerten von Aussagen die Ziffern 0 und 1 zuordnete, in Stromspannungen übersetzt werden kann: Nicht-Strom heißt 0, Strom heißt 1. Shannon hat 1936 in „A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits“ nach diesem Prinzip die Werte 0 und 1 den Schaltkreisen zugeordnet. Mithilfe dieser Strom- und Nicht-Stromschaltungen konnte er binär codierte mathematische Operationen darstellen, die selbst wiederum logische Operationen repräsentierten. Die Boole’sche Algebra, die logische Operation wie UND, ODER, NEIN etc. mathematisiert hat, wurde nun zur Schaltalgebra, die diese Operationen in elektrische Schaltkreise verwandelt. Diese Übertragung mentaler Formeln in materielle elektronische Schaltkreise, diese Verknüpfung von logischen und elektronischen Systemen ist der Beginn der Computerisierung und digitalen Kultur.

Mit der Weiterentwicklung des Computers von einer reinen Rechenmaschine zu einer Bild-Ton- und Sprachmaschine entstand die neue Welt der Daten. Alle Objekte, Wörter, Töne und Bilder können nun auf Zahlen abgebildet und aus Zahlen konstruiert werden. Damit entstand ein Code, mit dessen Hilfe Menschen nicht nur mit Menschen kommunizieren konnten, sondern auch mit Maschinen. Es entstanden die Maschinen- und Programmiersprachen. Daraus ergaben sich die entscheidenden Veränderungen der Kulturtechnik.

 

In der analogen Welt konnten die Wörter und die Bilder nicht in Dinge zurückverwandelt werden. Denken Sie an René Magrittes Gemälde „La trahison des images“ von 1929, auf dem eine Pfeife abgebildet ist, worunter der Schriftzug abgebildet ist „Ceci n’est pas une pipe“ – dies ist keine Pfeife. In der analogen Welt der Kulturtechnik der verbalen und visuellen Sprache herrscht das Prinzip der Irreversibilität. Durch die Digitalisierung werden alle Wörter, Bilder, Töne in Ziffernfolgen, d. h. in Daten, verwandelt und erstmals können diese Daten auch in Töne, Bilder und Wörter zurückverwandelt werden. Es herrscht in der digitalen Kultur erstmals in der Geschichte der Menschheit das Prinzip der Reversibilität. Mithilfe des 3D-­Drucks können Daten sogar in Dinge verwandelt werden. Die Beziehungen zwischen Daten und Wörtern, Bildern und Tönen sind in der digitalen Welt reversibel. Damit ist die Mathematik von einer Sprache der Natur auch zu einer Sprache der Kultur geworden.

 

Die digitale Kulturtechnik hat aber noch eine weitere Revolution initiiert. Die bisherige Kultur ist nämlich auf einer zweidimensionalen Notation aufgebaut: Die Schrift, ebenso wie Noten, Zahlen und Zeichen, werden auf Papier, auf einer zweidimensionalen Fläche, geschrieben und gespeichert. Mit dem CAD, dem Computer-aided design, entsteht erstmals die Möglichkeit der Simulation einer dreidimensionalen Notation. Ohne diese „dreidimensionale Notation“ gäbe es keine Architektur von Zaha Hadid oder Frank O. Gehry. Die digitalen Kulturtechniken führen uns an die Schwelle einer dreidimensionalen Notation. Ich selbst habe bereits 2018 mit Adam Słowik und Christian Lölkes ein geometrisches Objekt hergestellt, ausgestattet mit Smartphone-Technologie, dessen Bewegungen im Raum auf einem Bildschirm alle 26 Buchstaben des Alphabets erzeugen. Hat Leibniz alle Zahlen der Welt auf zwei Ziffern reduziert, habe ich mit meinen Kollegen alle Zeichen der Welt auf ein einziges geometrisches 3D-Gebilde reduziert. Die zukünftigen Konsequenzen der dreidimensionalen Notation, vom 3D-Kino über den 3D-Druck bis zum mehrdimensionalen Zahlenraum, sind im Augenblick schwer vorstellbar. Die Evolution hat nämlich unser Gehirn bei der Ausbildung zur Fähigkeit räumlicher Vorstellungen extrem vernachlässigt. Die meisten Menschen können zwar ein Schuhband binden, doch fällt es ihnen schwer, diesen Vorgang in Einzelschritten zeichnerisch darzustellen.

 

Neben der Reversibilität und dreidimensionalen Notation offerieren digitale Kulturtechniken eine neue Form der Ontologie, die ich eine operative Ontologie nenne. Ein Ergebnis dieser neuen Ontologie ist bereits in den Alltag eingedrungen. Normalerweise schreibt der Mensch Zahlen und Rechenvorschriften wie Addition als + auf ein Papier, rechnet selbst im Kopf und schreibt das Ergebnis der Rechenoperation wiederum auf Papier. Beim Taschenrechner drückt der Mensch auf die Tasten mit den Ziffern und Rechenvorschriften, aber das Ergebnis liefert die Maschine selbstständig. Nicht der Mensch rechnet, sondern die Maschine rechnet für den Menschen: Mentalismus und Mechanismus sind ident. Daraus können wir lernen: Nicht alles, was existiert, kann gedacht werden. Und nicht alles, was gedacht werden kann, kann gesagt bzw. formalisiert bzw. codiert werden. Es gibt also mehr als das, was wir denken, wissen und sagen können. Aber der Teil des Seins, der gedacht werden kann, und der Teil des Denkens, der gesagt werden kann, können formalisiert werden. Digitale Philosophie behauptet nicht, dass alles formalisierbar sei. Doch alles, was formalisiert werden kann, kann berechnet werden. Und alles, was berechnet werden kann, kann mechanisiert werden. Das ist der Kern der digitalen Kultur. Unsere Lebenswelt wird also in wesentlichen Teilen aus einer künstlichen, von Menschen gemachten Datenwelt bestehen und digitale Codes bzw. Kulturtechniken werden die primären Operatoren sein.

 

Die historischen klassischen Codes, wie Sprache und Partitur, sind nur Anweisungen und bedürfen der Menschen zur Ausführung. Die grundlegende noetische Wende der digitalen Kulturtechnik besteht darin, dass Maschinencodes Anweisung und Ausführung in einem sind. Der Mensch wird sich daran gewöhnen müssen, dass in Zukunft nicht nur Tiere, Pflanzen und Objekte Mitwesen sind, sondern auch Maschinen zu gleichrangigen, wenn nicht superioren Mitwesen aufsteigen werden. Das ist für viele die Drohung des auf Künstlicher Intelligenz aufgebauten Transhumanismus, die nächste Kränkung des „gottähnlichen Wesens“ Mensch nach Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Peter Weibel
Peter Weibel ist künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM).
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