„Nutzungsmischung“

Wie sieht die Zukunft unserer Städte nach Corona aus?

Zwischen Stadtforschung und Politik agiert das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Zu den aktuellen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die Entwicklung des Stadtraums durch die Folgen der Corona-Pandemie. Hans Jessen spricht mit dem Leiter Markus Eltges über künftige Veränderungen unserer Städte.

 

Hans Jessen: Herr Eltges, Sie leiten das BBSR, angesiedelt beim BMI – weil das auch als Bauministerium fungiert. Das BBSR soll eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und politischen Institutionen sein. Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Markus Eltges: Wir sind eine Ressortforschungseinrichtung und haben die Aufgabe, das Ministerium durch unsere Forschung zu unterstützen und zu beraten. Wir betreiben keine Grundlagenforschung, sondern eher „angewandte Forschung“. Wir haben die Aufgabe, Politik wissenschaftlich zu beraten bzw. auf deren Fragen Antworten und Empfehlungen zu geben. Unser Wissen beziehen wir aus einer sehr umfangreichen, raumbezogenen statistischen Basis. D. h. wir können Gemeinden, Kommunen und Kreise in Deutschland sehr genau mit zentralen Indikatoren abbilden: Wie entwickeln sich Bevölkerungszahlen, Arbeitsmärkte, Wohnungsbaugeschehen etc.? Unser System ist flächendeckend aufgebaut, so können wir der Politik genaue Daten geben und auf Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch -probleme aufmerksam machen. Wir generieren Wissen sowohl durch eigene Forschungsarbeiten als auch durch Vernetzung mit Wissenschaft und Praxis. Ein Markenkern unserer Institution ist, dass wir Lösungen auch gemeinsam mit Praktikern z. B. in Städten und Regionen, Verbänden und Initiativen entwickeln. Ein Standbein ist unsere Modellvorhabenforschung, da arbeiten wir gemeinsam mit Akteuren in Städten und Gemeinden an Fragen, die für das ganze Land von Bedeutung sind – wir nennen das „Bundesinteresse“. Beispielsweise haben wir unter dem Stichwort „Smart Cities“ auch mit Städten und Gemeinden die Smart-City-Charta entwickelt, um diesen schillernden Begriff für die kommunalen Akteure fassbarer zu machen. Smart City ist nicht das Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Es geht darum, lokale Probleme zu lösen oder z. B. die CO2-neutrale Stadt durch die Anwendung von digitalen Instrumenten zu unterstützen. „Urbanes Grün“ ist ein weiterer sehr wichtiger Arbeitsschwerpunkt. Wir stellen solche Erkenntnisse und Daten über ein vielfältiges Publikationswesen auch allen anderen Städten und Gemeinden zur Verfügung, damit diese für ihre jeweilige Situation Ideen gewinnen können.

 

Die Corona-Pandemie mit ihren direkten und indirekten Folgen trifft die Realität gesellschaftlichen Lebens in einer Heftigkeit, die wir historisch nur von Zerstörungen durch Kriege oder Naturkatastrophen kennen. Die verfügte Einschränkung bis hin zur Schließung von Kaufläden, Gastronomie, Freizeit- und Kultureinrichtungen erleben wir in unterschiedlicher Weise alle seit knapp einem Jahr. Inwiefern ist die Analyse dieser Veränderungen Teil Ihrer Arbeit geworden?

Als die Pandemie sich in ihren Ansätzen abzeichnete, haben wir das natürlich als Aufgabe begriffen und uns, gemeinsam mit dem BMI, mit den möglichen Konsequenzen und Instrumentarien beschäftigt. Diese Krise hat uns gelehrt: Wir hätten wissen können, dass so etwas geschehen könnte. Eine erste Konsequenz ist, dass wir in Zukunft sehr viel stärker Resilienzforschung betreiben müssen. Die Frage bleibt also: Wie gehen wir mit Krisen um, wie bewältigen wir sie? Selbst wenn – hoffentlich – diese Krise irgendwann überwunden sein wird: Die Statistiker sagen uns, dass wir über kurz oder lang mit der nächsten Krise konfrontiert sein werden. Das muss keine Pandemie sein, sondern etwas völlig anderes – aber wir müssen Umgang mit Krisen stärker in den Fokus der Forschung nehmen. Corona stellt durch die Langfristigkeit und Weiträumigkeit eine völlig andere Krisendimension dar als z. B. zeitlich und räumlich begrenzte Naturkatastrophen.

 

Sie haben aktuell eine Publikation herausgegeben, die die Auswirkungen der Pandemie auf städtische Strukturen aus vielen Blickwinkeln untersucht. Schafft die Pandemie fundamental neue Probleme für Bauen, Wohnen, Planen – oder beschleunigt sie im Wesentlichen schon zuvor erkennbare Prozesse?

Sie beschleunigt zuvor erkennbare Prozesse, das sehen wir im Bereich der Innenstadtentwicklung. Neu an dieser Pandemie ist die Gleichzeitigkeit der betroffenen Sektoren. Der Einzelhandel, die Gastronomie, die Hotellerie, die Bürostandorte in der Stadt – das sind alles prägende Sektoren innerstädtischer Entwicklung, die jetzt massiv gleichzeitig betroffen sind. Das Thema der Auswirkungen des Onlinehandels auf den innerstädtischen Einzelhandel steht durch die Pandemie inzwischen weit oben auf der politischen Agenda. Kommunen sind schon länger mit der Frage beschäftigt, wie die Innenstädte als Kern der europäischen Stadt – und damit auch unserer Identität – erhalten werden können. Neben dem veränderten Einkaufsverhalten durch den Onlinehandel ist neu, dass durch die Pandemie der Anteil des „Arbeitens zu Hause“ wahnsinnig beschleunigt wird, wir erleben einen Digitalisierungsschub. Wir sind uns aber noch nicht im Klaren darüber, ob diese besondere Flexibilität von Arbeitsorganisation unter Pandemiebedingungen sich in einer dauerhaften Verlagerung und Dekonzentration von Arbeitsplätzen auswirken wird – sei es von den Städten in den suburbanen oder noch weiter in den ländlichen Raum. Das zu untersuchen steht auf der Agenda. Wenn z. B. Homeoffice für viele Normalität wird, sollten wir über neue oder flexible Wohngrundrisse nachdenken.

 

Die „Cities“ der Großstädte hatten sich in den letzten Jahrzehnten als Konsum-, Kultur- und Freizeitzentren entwickelt, Wohnen spielte eher eine untergeordnete Rolle. Im Lockdown erleben wir die Brutalität entlebter Innenstädte. Bietet die Krise auch Chancen für eine Rekommunalisierung der Areale, Umnutzung oder Neubau für Wohnzwecke, alternative Arbeits- und Dienstleistungsformen, die in einer Post-Pandemie-Gesellschaft entstehen können? Krise als Chance?

In unserer Publikation „Informationen zur Raumentwicklung“ (Heft 4/2020 meint der Zukunftsforscher Matthias Horx, Krise biete „die Möglichkeit, in Neues hineinzuwachsen“. Und der Architekturkritiker Niklas Maak schreibt: „So gesehen kommen auf die Architekten großartige Zeiten zu. Sie können die Grammatik der „Stadt neu schreiben“. Das ist sicher eine Option. Es gab zur Frage, wie es mit unseren Innenstädten weitergeht, im Januar auch eine Anhörung im Deutschen Bundestag. Die Politik will Lösungen. Nach allem, was wir heute wissen, wird „Nutzungsmischung“ der Begriff der Zukunft sein. Die Innenstadt der Zukunft wird stärker nutzungsgemischt sein. Das Einkaufen als prägendes Merkmal werden wir nicht einbüßen, aber das wird sich – im Rahmen des Einzelhandels – zukünftig eher auf Erdgeschossflächen abspielen, für die Ebenen darüber kann es andere Nutzungen geben. Wenn wir lebendige Innenstädte wollen, müssen wir über Bildungs- und Kultureinrichtungen nachdenken und das Wohnen, Kitas, Schulen, Universitäten wieder in die Innenstädte holen. Die Stadt Siegen macht es vor, sie hat neue Standorte in der Innenstadt angesiedelt, um ein Zeichen zu setzen. Dazu gehört ein neues Leitbild von Stadt. Die „autogerechte Stadt“ hat ausgedient. Wir könnten das Leitbild „Gartenstadt“ neu denken, ein Konzept aus der Reformarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgemäßen Form als „urbane Gartenstadt“. Das heißt mehr urbanes Grün – auch auf Dächern und an Fassaden. Wir brauchen mehr Wasserflächen in der Stadt, grüne öffentliche Plätze mit Aufenthaltsangeboten, baumgesäumte Wege. Parks, Gärten und Grünanlagen müssen durch ein gutes Wegenetz verbunden sein. Dies steigert die Aufenthaltsqualität in unseren Innenstädten– auch bei Hitze im Sommer. Über smarte Technologien und interessante Angebotskonzepte muss dann noch die Lust auf die Innenstadt unterstützt werden.

Markus Eltges & Hans Jessen
Markus Eltges leitet das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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