Markus Eltges & Hans Jessen - 2. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Stadtkultur

„Nutzungsmischung“


Wie sieht die Zukunft unserer Städte nach Corona aus?

Zwischen Stadtforschung und Politik agiert das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Zu den aktuellen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die Entwicklung des Stadtraums durch die Folgen der Corona-Pandemie. Hans Jessen spricht mit dem Leiter Markus Eltges über künftige Veränderungen unserer Städte.

 

Hans Jessen: Herr Eltges, Sie leiten das BBSR, angesiedelt beim BMI – weil das auch als Bauministerium fungiert. Das BBSR soll eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und politischen Institutionen sein. Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Markus Eltges: Wir sind eine Ressortforschungseinrichtung und haben die Aufgabe, das Ministerium durch unsere Forschung zu unterstützen und zu beraten. Wir betreiben keine Grundlagenforschung, sondern eher „angewandte Forschung“. Wir haben die Aufgabe, Politik wissenschaftlich zu beraten bzw. auf deren Fragen Antworten und Empfehlungen zu geben. Unser Wissen beziehen wir aus einer sehr umfangreichen, raumbezogenen statistischen Basis. D. h. wir können Gemeinden, Kommunen und Kreise in Deutschland sehr genau mit zentralen Indikatoren abbilden: Wie entwickeln sich Bevölkerungszahlen, Arbeitsmärkte, Wohnungsbaugeschehen etc.? Unser System ist flächendeckend aufgebaut, so können wir der Politik genaue Daten geben und auf Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch -probleme aufmerksam machen. Wir generieren Wissen sowohl durch eigene Forschungsarbeiten als auch durch Vernetzung mit Wissenschaft und Praxis. Ein Markenkern unserer Institution ist, dass wir Lösungen auch gemeinsam mit Praktikern z. B. in Städten und Regionen, Verbänden und Initiativen entwickeln. Ein Standbein ist unsere Modellvorhabenforschung, da arbeiten wir gemeinsam mit Akteuren in Städten und Gemeinden an Fragen, die für das ganze Land von Bedeutung sind – wir nennen das „Bundesinteresse“. Beispielsweise haben wir unter dem Stichwort „Smart Cities“ auch mit Städten und Gemeinden die Smart-City-Charta entwickelt, um diesen schillernden Begriff für die kommunalen Akteure fassbarer zu machen. Smart City ist nicht das Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Es geht darum, lokale Probleme zu lösen oder z. B. die CO2-neutrale Stadt durch die Anwendung von digitalen Instrumenten zu unterstützen. „Urbanes Grün“ ist ein weiterer sehr wichtiger Arbeitsschwerpunkt. Wir stellen solche Erkenntnisse und Daten über ein vielfältiges Publikationswesen auch allen anderen Städten und Gemeinden zur Verfügung, damit diese für ihre jeweilige Situation Ideen gewinnen können.

 

Die Corona-Pandemie mit ihren direkten und indirekten Folgen trifft die Realität gesellschaftlichen Lebens in einer Heftigkeit, die wir historisch nur von Zerstörungen durch Kriege oder Naturkatastrophen kennen. Die verfügte Einschränkung bis hin zur Schließung von Kaufläden, Gastronomie, Freizeit- und Kultureinrichtungen erleben wir in unterschiedlicher Weise alle seit knapp einem Jahr. Inwiefern ist die Analyse dieser Veränderungen Teil Ihrer Arbeit geworden?

Als die Pandemie sich in ihren Ansätzen abzeichnete, haben wir das natürlich als Aufgabe begriffen und uns, gemeinsam mit dem BMI, mit den möglichen Konsequenzen und Instrumentarien beschäftigt. Diese Krise hat uns gelehrt: Wir hätten wissen können, dass so etwas geschehen könnte. Eine erste Konsequenz ist, dass wir in Zukunft sehr viel stärker Resilienzforschung betreiben müssen. Die Frage bleibt also: Wie gehen wir mit Krisen um, wie bewältigen wir sie? Selbst wenn – hoffentlich – diese Krise irgendwann überwunden sein wird: Die Statistiker sagen uns, dass wir über kurz oder lang mit der nächsten Krise konfrontiert sein werden. Das muss keine Pandemie sein, sondern etwas völlig anderes – aber wir müssen Umgang mit Krisen stärker in den Fokus der Forschung nehmen. Corona stellt durch die Langfristigkeit und Weiträumigkeit eine völlig andere Krisendimension dar als z. B. zeitlich und räumlich begrenzte Naturkatastrophen.

 

Sie haben aktuell eine Publikation herausgegeben, die die Auswirkungen der Pandemie auf städtische Strukturen aus vielen Blickwinkeln untersucht. Schafft die Pandemie fundamental neue Probleme für Bauen, Wohnen, Planen – oder beschleunigt sie im Wesentlichen schon zuvor erkennbare Prozesse?

Sie beschleunigt zuvor erkennbare Prozesse, das sehen wir im Bereich der Innenstadtentwicklung. Neu an dieser Pandemie ist die Gleichzeitigkeit der betroffenen Sektoren. Der Einzelhandel, die Gastronomie, die Hotellerie, die Bürostandorte in der Stadt – das sind alles prägende Sektoren innerstädtischer Entwicklung, die jetzt massiv gleichzeitig betroffen sind. Das Thema der Auswirkungen des Onlinehandels auf den innerstädtischen Einzelhandel steht durch die Pandemie inzwischen weit oben auf der politischen Agenda. Kommunen sind schon länger mit der Frage beschäftigt, wie die Innenstädte als Kern der europäischen Stadt – und damit auch unserer Identität – erhalten werden können. Neben dem veränderten Einkaufsverhalten durch den Onlinehandel ist neu, dass durch die Pandemie der Anteil des „Arbeitens zu Hause“ wahnsinnig beschleunigt wird, wir erleben einen Digitalisierungsschub. Wir sind uns aber noch nicht im Klaren darüber, ob diese besondere Flexibilität von Arbeitsorganisation unter Pandemiebedingungen sich in einer dauerhaften Verlagerung und Dekonzentration von Arbeitsplätzen auswirken wird – sei es von den Städten in den suburbanen oder noch weiter in den ländlichen Raum. Das zu untersuchen steht auf der Agenda. Wenn z. B. Homeoffice für viele Normalität wird, sollten wir über neue oder flexible Wohngrundrisse nachdenken.

 

Die „Cities“ der Großstädte hatten sich in den letzten Jahrzehnten als Konsum-, Kultur- und Freizeitzentren entwickelt, Wohnen spielte eher eine untergeordnete Rolle. Im Lockdown erleben wir die Brutalität entlebter Innenstädte. Bietet die Krise auch Chancen für eine Rekommunalisierung der Areale, Umnutzung oder Neubau für Wohnzwecke, alternative Arbeits- und Dienstleistungsformen, die in einer Post-Pandemie-Gesellschaft entstehen können? Krise als Chance?

In unserer Publikation „Informationen zur Raumentwicklung“ (Heft 4/2020 meint der Zukunftsforscher Matthias Horx, Krise biete „die Möglichkeit, in Neues hineinzuwachsen“. Und der Architekturkritiker Niklas Maak schreibt: „So gesehen kommen auf die Architekten großartige Zeiten zu. Sie können die Grammatik der „Stadt neu schreiben“. Das ist sicher eine Option. Es gab zur Frage, wie es mit unseren Innenstädten weitergeht, im Januar auch eine Anhörung im Deutschen Bundestag. Die Politik will Lösungen. Nach allem, was wir heute wissen, wird „Nutzungsmischung“ der Begriff der Zukunft sein. Die Innenstadt der Zukunft wird stärker nutzungsgemischt sein. Das Einkaufen als prägendes Merkmal werden wir nicht einbüßen, aber das wird sich – im Rahmen des Einzelhandels – zukünftig eher auf Erdgeschossflächen abspielen, für die Ebenen darüber kann es andere Nutzungen geben. Wenn wir lebendige Innenstädte wollen, müssen wir über Bildungs- und Kultureinrichtungen nachdenken und das Wohnen, Kitas, Schulen, Universitäten wieder in die Innenstädte holen. Die Stadt Siegen macht es vor, sie hat neue Standorte in der Innenstadt angesiedelt, um ein Zeichen zu setzen. Dazu gehört ein neues Leitbild von Stadt. Die „autogerechte Stadt“ hat ausgedient. Wir könnten das Leitbild „Gartenstadt“ neu denken, ein Konzept aus der Reformarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgemäßen Form als „urbane Gartenstadt“. Das heißt mehr urbanes Grün – auch auf Dächern und an Fassaden. Wir brauchen mehr Wasserflächen in der Stadt, grüne öffentliche Plätze mit Aufenthaltsangeboten, baumgesäumte Wege. Parks, Gärten und Grünanlagen müssen durch ein gutes Wegenetz verbunden sein. Dies steigert die Aufenthaltsqualität in unseren Innenstädten– auch bei Hitze im Sommer. Über smarte Technologien und interessante Angebotskonzepte muss dann noch die Lust auf die Innenstadt unterstützt werden.

Welche Lebensformen sind von der Pandemie besonders betroffen? Letztlich lebt zwar ein Drittel der Deutschen in Groß- und Mittelstädten – die Mehrheit aber lebt anders. In Kleinstädten oder ländlichen Räumen. Welche dieser Siedlungsräume sind heftiger von Pandemie und Restriktionen betroffen?

Aus der Analyse der Daten können wir sagen, dass es keinen expliziten Stadt-Land-Gegensatz gegeben hat. Die Ausbreitung der Pandemie folgte eher regionalen Spezifika. Bei den Wohnformen zeigte sich, dass Menschen in engeren Wohn- und Arbeitsverhältnissen stärker betroffen waren, die weder eigene Gärten noch Balkons haben. Die Pandemie lehrte, wie wichtig fußläufig erreichbare Grünflächen und Freiflächen sind, in denen man sich erholen kann.

 

Absehbar ist, dass die Pandemie zu einem stärkeren Anteil von Arbeit im Homeoffice führen wird. Die Entfernung zwischen Wohnort und Firmensitz wird vielleicht an Problematik verlieren, auch dürften Pendlerströme quantitativ geringer ausfallen. Lassen sich Prognosen anstellen, was das für die Entwicklung städtischer und ländlicher Räume bedeuten könnte?

Prognosen sind schwierig, da die Vermutungen, ob die Menschen nach Überwindung der Pandemie mehrheitlich wieder zum vorherigen Zustand zurück wollen oder ob ein erheblicher Veränderungsdruck schon in Gang ist, sehr weit auseinander- gehen. Ich denke, dass auf jeden Fall die Formen mobilen Arbeitens in Zukunft sehr viel größere Bedeutung bekommen werden. Wir haben auf Grundlage unserer statistischen Basis geschätzt, dass von allen deutschen Erwerbstätigen rund 20 Millionen Menschen in Formen mobilen Arbeitens eintreten könnten. Das sind etwa 45 Prozent aller Erwerbstätigen. Nicht alle werden an allen Tagen und gleichzeitig im Homeoffice tätig sei. Aber das Potenzial ist enorm. Pendlerströme werden zurückgehen und wohnortnahe Versorgungsangebote erhalten einen Aufschwung, weil diese Menschen ihre Einkäufe nicht mehr regelmäßig in der Stadt erledigen würden. Das hätte Konsequenzen für innerstädtische Immobilien und Bürostandorte, die nicht mehr in der Frequenz genutzt werden würden wie vor Corona. Diese Veränderungsprozesse der nächsten Monate und Jahre werden wir als BBSR sehr genau beobachten und für die Politik aufbereiten.

 

In Ihrer genannten Publikation „Informationen zur Raumentwicklung“ heißt es, dann müsse sich auch die Politik trauen, Voraussetzungen für staatliche Eingriffe zu schaffen, wenn Grundeigentümer verantwortungslos oder/und rein spekulativ agieren. Darin steckt eine Handlungsaufforderung an die Politik.

Wenn Sie städtisches Leben neu aufstellen und strukturieren wollen, hat das Konsequenzen für Nutzung und Eigentümerstruktur. Wenn Sie den Bau von Kitas, Schulen, Unis oder Wohnungen in innerstädtischen Lagen planen oder neue Formen des hybriden Einzelhandels entwickeln wollen, geht das nur, wenn Sie an die bestehenden Grundstücke und Gebäude herankommen. Die aufgeworfene Frage bedeutet, dass man mit den Eigentümern in sehr intensive Gespräche kommen muss. Wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens haben, dass wir die Innenstädte als Markenzeichen europäischer Stadtkultur weiterhin mit Leben füllen wollen, stellt sich dann auch die Frage, welche Rechtsinstrumentarien die Städte und Gemeinden haben müssen, um an die Grundstücke und Liegenschaften heranzukommen, die für eine zukunftsfähige und liebenswerte Innenstadt notwendig sind. Nach meiner Auffassung lassen sich gute Strategien auch nur in Gemeinsamkeit mit Eigentümern entwickeln. Es wird auch nicht die Lösung, sondern immer einzelfallbezogene Lösungen für jeweilige Situationen geben. Die hängen mit politischen Mehrheitsverhältnissen und Eigentümerstrukturen zusammen.

 

Ihr Institut hat – gemeinsam mit dem BMI – vor gut einem halben Jahr einen Aufruf gestartet: „Post-Corona-Stadt“. Mit 3,5 Millionen Euro sollen 10 bis 15 konkrete Projekte prämiert werden, die Stadtgesellschaften im Umgang mit Krisen stärken sollen. Was hat sich seit der Ausschreibung getan?

Wir kommen auch an Wissen, indem wir in die Praxis hineinrufen mit der Frage: Wie löst ihr die Probleme, die ihr habt? Unsere Erfahrung zeigt, dass die Praxis sehr kreative Lösungen entwickelt, die auf andere Städte übertragbar sind. Das ist der Zweck solcher Aufrufe. Wir haben seit Sommer Meldungen und Angebote von Projekten von 222 deutschen Kommunen bekommen. Von Kleinstädten, Großstädten, Mittelstädten. Es sind Beispiele für die schon angesprochene Nutzungsmischung dabei, wie kulturelle Einrichtungen zur Lebendigkeit städtischen Lebens beitragen, wie neue Partner in Nutzungssysteme integriert werden können – eine sehr große Vielfalt kreativer Ideen. Krisen passieren. Zupackende Menschen mit guten Ideen sind der Garant für die Krisenbewältigung. Und davon haben wir reichlich.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/heimat/stadtkultur/nutzungsmischung/