Kulturtechnik Bauen

Baukultur als Basis und Handlungsebene der Stadtkultur

In einer Bevölkerungsumfrage zur Baukultur stellte die Bundesstiftung Baukultur 2015 die Frage „Wo würden Sie am liebsten wohnen?“ Und zwar unabhängig von Ihrer finanziellen Situation oder anderen Rahmenbedingungen und wenn Sie es sich aussuchen könnten? Zu unserer Überraschung haben die Antworten unsere häufig stadtzentrierte (bau-)kulturellen Perspektive erheblich relativiert. Die meisten Befragten würden gern in einer Landgemeinde leben (44%). Danach folgen 33 Prozent, die gern in einer Mittel- oder Kleinstadt leben wollen, und nur 21 Prozent entscheiden sich für die Großstadt. Die Altersgruppe der jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren ist in der Großstadtgruppe mit 40 Prozent Zustimmung überproportional vertreten und mit ihr unsere kreativwirtschaftliche Fokussierung und mediale Berichterstattung über Großstädte. Tatsächlich werden jugendliche Lebensstile mit Lebendigkeit verbunden und dem kulturellen Angebot und den Leistungen großer Städte gleichgesetzt. Dennoch ist das nur ein Teil der Realität. Schon vor fünf Jahren war für vier Fünftel der Bevölkerung die Großstadtkultur nicht das Maß der Dinge und wir erleben gerade, wie sich die Vorliebe nach dem Land unter Corona-Bedingungen und der Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, auch bei jungen Menschen weiter verstärkt.

 

Dennoch sind urbane Lebensstile auf dem Land – aber auch naturbezogene Wohnwünsche in der Stadt – auf die baukulturell konstituierenden Elemente eines vielfältigen, nutzungs- und sozialgemischten Gemeinwesens angewiesen. Eine kritische Masse von sozialen Begegnungen und baulicher Dichte schafft erst eine Stadtkultur, in der ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben möglich sind. Hier, wo gebauter Raum und Sozialraum sich wie Gegensatzpaare begegnen, liegt das Wesen der Stadtkultur.

 

Walter Siebel hat 2015 in seinem Buch „Die Kultur der Stadt“ darauf hingewiesen, dass angesichts schwindender Unterschiede zwischen Stadt und Land und komplexer Definitionsfragen, Stadtkultur allgemein auch mit der Kulturausstattung der Stadt verbunden wird. „Gemeinhin wird unter Stadtkultur der Gegenstandsbereich der städtischen Kulturpolitik, d. h. die Summe der Bildungs- und Kultureinrichtungen und der kulturellen Aktivitäten in einer Stadt, verstanden, seien sie öffentlich, ehrenamtlich oder privat organisiert.“ Demnach sind öffentliche Bildungs- und Kulturbauwerke wie Schulen, Universitäten, Theater, Kirchen, Museen und Opernhäuser nicht nur Orte des Wissens und des geistigen Austauschs, sondern Träger von Stadtkultur.

 

Hier sind wir an einer Schlüsselstelle der Wirkung von Baukultur in der Stadt, indem sie durch zentrale Daseinsangebote unmittelbar wirksam wird. Einerseits sind Kulturbauwerke Bestandteile einer häufig städtisch geprägten Baukultur – hier wurde und wird in besonderer Weise Anspruch und Verantwortung der öffentlichen Bauherren an maßstabsetzende, hochwertige Baukultur wirksam. Andererseits bieten diese Gebäude öffentliche Innenräume für unsere Gesellschaft. Foyers, Aulen, Schulküchen oder Auditorien könnten niedrigschwellig durch Stadt- und Stadtteilöffentlichkeit mitgenutzt werden.

 

Baukultur bezieht sich also nicht nur auf das Entwickeln, Planen und Bauen von Bauwerken und öffentlichen Räumen, sondern im Sinne einer kulturellen Dimension und Kulturtechnik auch auf deren dauerhafte Nutzung. Sie ist die Summe aller menschlichen Leistungen, unsere gebaute Umwelt möglichst hochwertig zu gestalten. Wie bei dem zusammengesetzten Begriff Stadtkultur verweist auch bei der Baukultur der Wortbestandteil Kultur, aus dem Lateinischen „cultura“, abgeleitet von colere für Pflege, Bebauung, Veredlung, auf das ständige Anliegen eines den Wandel begleitenden Aufwertungs- oder Optimierungsprozesses.

 

Auch Stadtkultur ist geprägt durch vom beständigen Wandel getragene Lebendigkeit. Sie macht sich an der Nutzung von Bauwerken und öffentlichen Räumen fest und ist eine wesentliche Triebfeder von Baukultur. Doch über welche Art der Baukultur reden wir? Angesichts von mit dem Klimawandel verbundenen Ressourcenfragen und der Notwendigkeit, prägende Bausubstanz zu bewahren und zu entwickeln, geht es nicht vorrangig um Neubau. Wir müssen Stadtkultur eher als Handlungsebene für eine umfassende Umbaukultur verstehen, die für einen angemessenen Umgang mit dem Bestand und für dessen Erhalt eintritt, aber auch Veränderungen wie funktionale, gestalterische und ökologische Verbesserungen bewirkt. Das gilt nicht nur für architektonische Aufgaben, sondern auch für die technische Infrastruktur mit bisher kaum genutztem Gestaltungspotenzial. Eine solche Umbaukultur betrifft sowohl die Planenden aus Bereichen wie Architektur, Ingenieurwesen, Verkehrsplanung, Stadt- oder Landschaftsplanung als auch die Länder und Kommunen, die Immobilienwirtschaft und das Wohnungswesen, Bauherren sowie das Handwerk und natürlich die Nutzerinnen und Nutzer selbst. Aufgrund dieses weiten, integral wirksamen Rahmens, muss Baukultur auch als Planungskultur verstanden werden. Interdisziplinärer Austausch, dialogische Planungsprozesse, rahmengebende Gesetzgebung, ermöglichende Genehmigungsverfahren und Teilhabe der Öffentlichkeit sind Bestandteile von Baukultur.

 

In Zeiten der Corona-Pandemie gibt es auf die Frage nach Trends und Tendenzen für unsere Städte keine wissenden Antworten. Projektionen sind schwierig und Prognosen von der jeweiligen Sichtweise abhängig. Wir beobachten, wie durch Corona die Stadtkultur ein Teil ihrer Gesellschaft verbindenden Wirkung einbüßt. Der stationäre Handel in den Innenstädten wurde in eine tiefe Krise gestürzt; vielen Zentren droht Leerstand und Funktionsverlust. Verstärkt wird der Effekt der verwaisten Zentren außerdem durch die wochenlange Schließung vielzähliger Kulturbetriebe, Clubs, Kinos, Restaurants, Café und Kneipen. Statt verbindlicher und verbindender Stadtbaukultur in attraktiven Innenstädten, gewinnt der unverbindliche, isolierende Onlinehandel mit seiner stadtkulturell schädigenden Wirkung an Zuspruch. Statt lebendiger Schule machen wir notgedrungen Homeschooling und im distanzierenden Homeoffice wird in Kontroversen sogar ein arbeitskultureller Fortschritt gesehen. Aus Sicht der gebauten Umwelt treten an die Stelle städtischer Utopien immer häufiger dystopische Befürchtungen sich schrittweise, zulasten der Stadt optimierender Subsysteme wie Individualverkehr oder Onlinehandel. Baukultur kann hier mithilfe von Kleinteiligkeit, Mischung, Vielfalt, offenen Erdgeschossen und hochwertiger Gestaltqualität von Architektur und Ingenieurbauten die träge Masse im Transformationsprozess sein, die die Erschütterungen der Krise auspendelt und positive Perspektiven aufzeigt.

 

Die Bundesstiftung Baukultur sieht ihre Aufgabe darin, der immer noch zu wenig gesehenen Handlungsebene des Planen und Bauens mehr Bedeutung zu verschaffen. Sie ist berechtigt, der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag alle zwei Jahre einen Bericht zur Lage der Baukultur in Deutschland vorzulegen. Diese Baukulturberichte behandeln zusätzlich Schwerpunktthemen wie den Umgang mit gebautem Bestand und Erbe (2018/19) oder die öffentlichen Räume (2020/21). Ergebnisse aus Umfragen, Werkstätten oder Fachgesprächen fließen in die Berichte ebenso ein wie eigene Erkenntnisse und Querbezüge aus den am Planen und Bauen beteiligten Disziplinen. Im Ergebnis schafft Baukultur den qualitätsvollen, analogen Rahmen für die Stadtkultur und vermittelt darüber hinaus Ansätze für kulturelles Leben in der Stadt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Reiner Nagel
Reiner Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur.
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