“Die Berliner Theater hatten eine Leuchtturmfunktion in beiden Gesellschaften”

Die Theaterlandschaft im Umbruch der Wiedervereinigung

 

Blickt man auf die Ostberliner Theaterszene, darf man die größte nicht staatlich gelenkte Demonstration der DDR am 4. November 1989 am Alexanderplatz nicht außer Acht lassen. Zu den offiziellen Veranstaltern zählen unter anderem die Berliner Theater.
Bei dieser Demonstration, die viele als Höhepunkt der Oppositionsbewegung in der DDR beschreiben, zumal es vorwiegend um Reformen innerhalb der DDR-Gesellschaft wie Kunstfreiheit, Pressefreiheit und Transparenz des Regierungshandelns ging, waren in der Tat die Theater federführend. Neben wichtigen Vertreten des Regimes wie Markus Wolf oder Günter Schabowski haben auch Heiner Müller, Christa Wolf und Schauspieler wie Ulrich Mühe, Steffie Spira und Annekathrin Bürger gesprochen. Das verweist auf eine politische Auseinandersetzung, die an den Theatern geführt wurde. Unmittelbar vor dem 4. November fanden an vielen Theatern öffentliche Diskussionen statt, bei denen Resolutionen verabschiedet wurden. Die Theaterensembles erhoben Forderungen, die sich auf Theater bezogen, aber eben nicht nur auf diese. Sie haben gesellschaftliche Veränderungen eingeklagt. Das allerdings immer mit der Perspektive, die bestehende DDR-Gesellschaft zu reformieren. Nach dem 4. November änderte sich die Bewegung: Sehr bald ging es um Fragen der Wiedervereinigung und des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten. Dabei war der Einfluss des Theaters auf die Bewegung rückläufig.

 

Blicken wir auf die frühen 1990er Jahre: Wie entwickelten sich die Berliner Bühnen in dieser Zeit?
In den frühen 1990er Jahren wurde in Ostdeutschland, nicht nur in Berlin, ein starker Besucherrückgang verzeichnet. Während das Theater in den unmittelbaren Wochen der Wendezeit eine Art Blütezeit der Diskussion und Intervention in gesellschaftlichen Fragen erlebte, kam es danach zu einer Art Moratorium. Das Publikum blieb zeitweise weg, andere Dinge wurden wichtiger. Das haben manche Schauspieler wie Ulrich Mühe auf sehr interessante Weise reflektiert. Viele begannen an der eigenen künstlerischen Arbeit zu zweifeln. An ostdeutschen Theatern wurden nach der Wende zum Teil auch Ost-West-Gegensätze innerhalb des Ensembles ausgetragen – z. B. dort, wo neue westdeutsche künstlerische Leitungen eingesetzt wurden, die auf ein komplett ostdeutsches Schauspielensemble trafen. Da kam es zu Konflikten, vor allem bei der Veränderung von Spielplänen.
Für Gesamtdeutschland werden diese frühen 1990er Jahre als eine Zeit des Strukturwandels, der Theaterfusionen, der Spartenschließung beschrieben. Da gab es übergreifende sozialstrukturelle Probleme des Theaters in Ost und West.
In Berlin gab es darüber hinaus spannende Besonderheiten. Dazu zählt die Schließung des Schiller Theaters im Jahre 1993, das seit den 1950er Jahren prägend für die Westberliner Theaterlandschaft gewesen war. Das ist der größte strukturelle Einschnitt zu dieser Zeit. Das führte dazu, dass sich der Schwerpunkt der Theaterszene nach Ostberlin verlagerte. Das ist mit Blick auf die gesamtdeutsche Entwicklung bemerkenswert – also eine Berliner Besonderheit. Dann gab es noch eine Reihe interessanter künstlerischer und theaterpolitischer Projekte: z. B. der Versuch einer kollektiven Leitung am Berliner Ensemble in den Jahren 1992 bis 1994, bei der man versuchte, west- und ostdeutsche Theatergrößen zusammenzubringen. Das führte schnell zu Konflikten, etwa zwischen Peter Zadek und Heiner Müller, in denen man merkte, dass die beiden Theatertraditionen doch nicht so leicht zusammenzuspannen waren. Ab der Spielzeit 1992/93 kamen die Experimente an Castorfs Volksbühne hinzu, die schnell von bundesweiter Bedeutung waren.

 

30 Jahre nach dem Mauerfall: Inwiefern hat sich mittlerweile eine Gesamtberliner Theaterlandschaft herausgebildet?
Für alle, die die Zeit vor 1989 nicht mehr selbst im Theater erlebt haben, stellt es sich als eine Gesamtberliner Theaterszene dar. Sie unterscheidet sich von der Situation in anderen deutschen Großstädten, wo es meist ein oder zwei Theater sind, die das städtische Theaterleben prägen. In Berlin hat man diese besondere Multipolarität, in der weiterhin auch Platz ist für Positionen, die sich aus der Tradition des DDR-Theaters entwickelt haben, an großen Häusern wie Volksbühne oder Berliner Ensemble, aber auch in der Kinder- und Jugendtheaterszene und im Figurentheater.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Matthias Warstat & Theresa Brüheim
Matthias Warstat ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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