“Die Berliner Theater hatten eine Leuchtturmfunktion in beiden Gesellschaften”

Die Theaterlandschaft im Umbruch der Wiedervereinigung

Matthias Warstat ist Experte für Theater- und Kulturgeschichte der Moderne und politisches Gegenwartstheater. Theresa Brüheim spricht mit ihm über die Berliner Bühnen und ihre Wirkungskraft auf die gesamte Republik – vor und nach der Wende.

 

Theresa Brüheim: Herr Professor Warstat, wie war die Situation der Theaterlandschaft in Berlin – in Ost und West – vor der Wende?
Matthias Warstat: Die Theaterlandschaft war damals dichter als heute. Es gab eine große Konzentration von Theatern in beiden Teilen der Stadt: Neben den großen Stadt- und Staatstheatern gab es auch Freie Szenen. Die Freie Szene entwickelte sich in Westberlin seit den 1960er/1970er Jahren. In Ostberlin gab es seit den 1980er Jahren zunehmend freie Theatergruppen. Die Berliner Theaterlandschaft hatte eine Art Leuchtturmfunktion in beiden Gesellschaften – in der DDR noch etwas stärker als in Westdeutschland, angesichts der Insellage Westberlins und der starken regionalen Theaterzentren in den Bundesländern. Wenn man über Berlin hinausschaut, fallen vor allem die vielen Verflechtungen und Beziehungen zwischen beiden deutschen Theaterlandschaften auf. Es gab viele Grenzgänger, z. B. ostdeutsche Regisseurinnen oder Regisseure, die sich in der DDR künstlerisch entwickelt hatten, später dann aber in den Westen gingen, man denke an Einar Schleef, Peter Palitzsch, Matthias Langhoff oder B. K. Tragelehn. Heiner Müller, aber auch heute weniger bekannte Autoren wie Georg Seidel wurden in Ost und West gespielt. Insofern gab es schon vor 1989 personell starke Verbindungen, die später das Zusammenwachsen beider Theaterlandschaften erleichtern sollten, und auch ästhetische Gemeinsamkeiten.

 

Welche ästhetischen Gemeinsamkeiten waren das?
Für beide Theaterlandschaften war beispielsweise der Einfluss Brechts, des epischen Theaters und entsprechend auch des Berliner Ensembles langfristig wichtig. Das DDR-Theater war stark geprägt von Brecht. In der BRD war das zunächst mit vielen Abwehrreaktionen verbunden, etwa zu Zeiten des Brecht-Boykotts in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Später war die Orientierung an und die Beschäftigung mit einer epischen, auf Distanz und Kritik abzielenden Theaterästhetik aber unübersehbar. Das war insbesondere für das westdeutsche Dokumentartheater wichtig. Damit einher ging in beiden Gesellschaften ein Nachdenken über die Strukturen des Theaters. Z. B. war das Ensembleprinzip für beide Gesellschaften langfristig wichtig, was auch mit den Einflüssen der Brecht-Tradition zu tun hat. In beiden Theaterlandschaften gab es eine ausgeprägte Nähe zum Staat, weite Teile des Theaters hingen stark von staatlicher Förderung ab. Gleichzeitig hatte es eine wichtige Funktion als Reflexionsinstanz für die Politik. Diese etatistischen Züge werden für die westdeutsche Seite besonders bei einer vergleichenden Betrachtung mit anderen westeuropäischen Theaterlandschaften dieser Zeit, wie z. B. der britischen, deutlich.

 

Was waren die gravierendsten Unterschiede in den Theatern in Ost- und in Westberlin vor der Wende?
Aus heutiger Perspektive fällt die unterschiedliche Geschichte der Freien Szene auf: In Westberlin ist sie unmittelbar auf die 68er-Tradition zurückbeziehbar. Vor und während der 68er-Bewegung haben sich viele freie Theatergruppen entwickelt, in den 1970er Jahren dann eingebettet in ein wachsendes linksalternatives Milieu. In Ostberlin wird das eher als ein Phänomen der 1980er Jahre beschrieben – wobei das noch genauerer Forschung bedarf. Insofern war die Stellung von großen Häusern wie dem Deutschen Theater, dem Berliner Ensemble, dem Maxim-Gorki-Theater und der Volksbühne in Ostberlin wohl noch dominanter als heute, da sich die freie Szene erst später entwickelte.

 

Theater stellten lange vor dem Mauerfall die Mauer auf der Bühne in verschiedenster Art und Weise infrage.
In Ostdeutschland kann man das Theater einbeziehen in eine Erzählung der Bürgerrechtsbewegung und oppositioneller Tendenzen, die in den 1980er Jahren immer stärker wurden. Das betrifft auch freie Theatergruppen wie das “Theater Zinnober”, die Gruppe war seit Anfang der 1980er Jahre in Berlin am Prenzlauer Berg tätig und verstand sich als ein regimekritisches Theater. Auch in den großen Theaterverbänden, etwa im Verband der Theaterschaffenden, lief eine zunehmend lebhafte Diskussion über die Theatersituation in der DDR. Davon ausgehend ging es immer auch um allgemeinere politische Fragen von Pressefreiheit oder Freiheit der Kunst und gesellschaftliche Debatten. Solche Fragen konnten an Orten wie dem Theater ähnlich wie in den Kirchen und an anderen alternativen Orten in den 1980er Jahren in relativ geschützter Umgebung verhandelt werden. Ab Januar 1988 begann ausgehend von den Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen mit dem Slogan “Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden” eine kontinuierliche Diskussion an den Theatern, die bis zum November 1989 andauerte. Aufmerksame Zuschauerinnen und Zuschauer konnten in den 1980er Jahren Anzeichen des Wandels im Theater der DDR beobachten. Für Westberlin und Westdeutschland werden die 1980er Jahren dagegen eher als eine Phase beschrieben, in der man sich mit ästhetischen Neuerungen beschäftigte. Es war für das postdramatische Theater eine wichtige Entwicklungsphase, es war auch die Zeit einer Internationalisierung der Theaterszene in der BRD. Dabei gab es aber, soweit ich sehe, wenig Aufmerksamkeit für deutsch-deutsche Themen.

Matthias Warstat & Theresa Brüheim
Matthias Warstat ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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