Matthias Warstat & Theresa Brüheim - 28. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

“Die Berliner Theater hatten eine Leuchtturmfunktion in beiden Gesellschaften”


Die Theaterlandschaft im Umbruch der Wiedervereinigung

Matthias Warstat ist Experte für Theater- und Kulturgeschichte der Moderne und politisches Gegenwartstheater. Theresa Brüheim spricht mit ihm über die Berliner Bühnen und ihre Wirkungskraft auf die gesamte Republik – vor und nach der Wende.

 

Theresa Brüheim: Herr Professor Warstat, wie war die Situation der Theaterlandschaft in Berlin – in Ost und West – vor der Wende?
Matthias Warstat: Die Theaterlandschaft war damals dichter als heute. Es gab eine große Konzentration von Theatern in beiden Teilen der Stadt: Neben den großen Stadt- und Staatstheatern gab es auch Freie Szenen. Die Freie Szene entwickelte sich in Westberlin seit den 1960er/1970er Jahren. In Ostberlin gab es seit den 1980er Jahren zunehmend freie Theatergruppen. Die Berliner Theaterlandschaft hatte eine Art Leuchtturmfunktion in beiden Gesellschaften – in der DDR noch etwas stärker als in Westdeutschland, angesichts der Insellage Westberlins und der starken regionalen Theaterzentren in den Bundesländern. Wenn man über Berlin hinausschaut, fallen vor allem die vielen Verflechtungen und Beziehungen zwischen beiden deutschen Theaterlandschaften auf. Es gab viele Grenzgänger, z. B. ostdeutsche Regisseurinnen oder Regisseure, die sich in der DDR künstlerisch entwickelt hatten, später dann aber in den Westen gingen, man denke an Einar Schleef, Peter Palitzsch, Matthias Langhoff oder B. K. Tragelehn. Heiner Müller, aber auch heute weniger bekannte Autoren wie Georg Seidel wurden in Ost und West gespielt. Insofern gab es schon vor 1989 personell starke Verbindungen, die später das Zusammenwachsen beider Theaterlandschaften erleichtern sollten, und auch ästhetische Gemeinsamkeiten.

 

Welche ästhetischen Gemeinsamkeiten waren das?
Für beide Theaterlandschaften war beispielsweise der Einfluss Brechts, des epischen Theaters und entsprechend auch des Berliner Ensembles langfristig wichtig. Das DDR-Theater war stark geprägt von Brecht. In der BRD war das zunächst mit vielen Abwehrreaktionen verbunden, etwa zu Zeiten des Brecht-Boykotts in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Später war die Orientierung an und die Beschäftigung mit einer epischen, auf Distanz und Kritik abzielenden Theaterästhetik aber unübersehbar. Das war insbesondere für das westdeutsche Dokumentartheater wichtig. Damit einher ging in beiden Gesellschaften ein Nachdenken über die Strukturen des Theaters. Z. B. war das Ensembleprinzip für beide Gesellschaften langfristig wichtig, was auch mit den Einflüssen der Brecht-Tradition zu tun hat. In beiden Theaterlandschaften gab es eine ausgeprägte Nähe zum Staat, weite Teile des Theaters hingen stark von staatlicher Förderung ab. Gleichzeitig hatte es eine wichtige Funktion als Reflexionsinstanz für die Politik. Diese etatistischen Züge werden für die westdeutsche Seite besonders bei einer vergleichenden Betrachtung mit anderen westeuropäischen Theaterlandschaften dieser Zeit, wie z. B. der britischen, deutlich.

 

Was waren die gravierendsten Unterschiede in den Theatern in Ost- und in Westberlin vor der Wende?
Aus heutiger Perspektive fällt die unterschiedliche Geschichte der Freien Szene auf: In Westberlin ist sie unmittelbar auf die 68er-Tradition zurückbeziehbar. Vor und während der 68er-Bewegung haben sich viele freie Theatergruppen entwickelt, in den 1970er Jahren dann eingebettet in ein wachsendes linksalternatives Milieu. In Ostberlin wird das eher als ein Phänomen der 1980er Jahre beschrieben – wobei das noch genauerer Forschung bedarf. Insofern war die Stellung von großen Häusern wie dem Deutschen Theater, dem Berliner Ensemble, dem Maxim-Gorki-Theater und der Volksbühne in Ostberlin wohl noch dominanter als heute, da sich die freie Szene erst später entwickelte.

 

Theater stellten lange vor dem Mauerfall die Mauer auf der Bühne in verschiedenster Art und Weise infrage.
In Ostdeutschland kann man das Theater einbeziehen in eine Erzählung der Bürgerrechtsbewegung und oppositioneller Tendenzen, die in den 1980er Jahren immer stärker wurden. Das betrifft auch freie Theatergruppen wie das “Theater Zinnober”, die Gruppe war seit Anfang der 1980er Jahre in Berlin am Prenzlauer Berg tätig und verstand sich als ein regimekritisches Theater. Auch in den großen Theaterverbänden, etwa im Verband der Theaterschaffenden, lief eine zunehmend lebhafte Diskussion über die Theatersituation in der DDR. Davon ausgehend ging es immer auch um allgemeinere politische Fragen von Pressefreiheit oder Freiheit der Kunst und gesellschaftliche Debatten. Solche Fragen konnten an Orten wie dem Theater ähnlich wie in den Kirchen und an anderen alternativen Orten in den 1980er Jahren in relativ geschützter Umgebung verhandelt werden. Ab Januar 1988 begann ausgehend von den Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen mit dem Slogan “Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden” eine kontinuierliche Diskussion an den Theatern, die bis zum November 1989 andauerte. Aufmerksame Zuschauerinnen und Zuschauer konnten in den 1980er Jahren Anzeichen des Wandels im Theater der DDR beobachten. Für Westberlin und Westdeutschland werden die 1980er Jahren dagegen eher als eine Phase beschrieben, in der man sich mit ästhetischen Neuerungen beschäftigte. Es war für das postdramatische Theater eine wichtige Entwicklungsphase, es war auch die Zeit einer Internationalisierung der Theaterszene in der BRD. Dabei gab es aber, soweit ich sehe, wenig Aufmerksamkeit für deutsch-deutsche Themen.

 

Blickt man auf die Ostberliner Theaterszene, darf man die größte nicht staatlich gelenkte Demonstration der DDR am 4. November 1989 am Alexanderplatz nicht außer Acht lassen. Zu den offiziellen Veranstaltern zählen unter anderem die Berliner Theater.
Bei dieser Demonstration, die viele als Höhepunkt der Oppositionsbewegung in der DDR beschreiben, zumal es vorwiegend um Reformen innerhalb der DDR-Gesellschaft wie Kunstfreiheit, Pressefreiheit und Transparenz des Regierungshandelns ging, waren in der Tat die Theater federführend. Neben wichtigen Vertreten des Regimes wie Markus Wolf oder Günter Schabowski haben auch Heiner Müller, Christa Wolf und Schauspieler wie Ulrich Mühe, Steffie Spira und Annekathrin Bürger gesprochen. Das verweist auf eine politische Auseinandersetzung, die an den Theatern geführt wurde. Unmittelbar vor dem 4. November fanden an vielen Theatern öffentliche Diskussionen statt, bei denen Resolutionen verabschiedet wurden. Die Theaterensembles erhoben Forderungen, die sich auf Theater bezogen, aber eben nicht nur auf diese. Sie haben gesellschaftliche Veränderungen eingeklagt. Das allerdings immer mit der Perspektive, die bestehende DDR-Gesellschaft zu reformieren. Nach dem 4. November änderte sich die Bewegung: Sehr bald ging es um Fragen der Wiedervereinigung und des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten. Dabei war der Einfluss des Theaters auf die Bewegung rückläufig.

 

Blicken wir auf die frühen 1990er Jahre: Wie entwickelten sich die Berliner Bühnen in dieser Zeit?
In den frühen 1990er Jahren wurde in Ostdeutschland, nicht nur in Berlin, ein starker Besucherrückgang verzeichnet. Während das Theater in den unmittelbaren Wochen der Wendezeit eine Art Blütezeit der Diskussion und Intervention in gesellschaftlichen Fragen erlebte, kam es danach zu einer Art Moratorium. Das Publikum blieb zeitweise weg, andere Dinge wurden wichtiger. Das haben manche Schauspieler wie Ulrich Mühe auf sehr interessante Weise reflektiert. Viele begannen an der eigenen künstlerischen Arbeit zu zweifeln. An ostdeutschen Theatern wurden nach der Wende zum Teil auch Ost-West-Gegensätze innerhalb des Ensembles ausgetragen – z. B. dort, wo neue westdeutsche künstlerische Leitungen eingesetzt wurden, die auf ein komplett ostdeutsches Schauspielensemble trafen. Da kam es zu Konflikten, vor allem bei der Veränderung von Spielplänen.
Für Gesamtdeutschland werden diese frühen 1990er Jahre als eine Zeit des Strukturwandels, der Theaterfusionen, der Spartenschließung beschrieben. Da gab es übergreifende sozialstrukturelle Probleme des Theaters in Ost und West.
In Berlin gab es darüber hinaus spannende Besonderheiten. Dazu zählt die Schließung des Schiller Theaters im Jahre 1993, das seit den 1950er Jahren prägend für die Westberliner Theaterlandschaft gewesen war. Das ist der größte strukturelle Einschnitt zu dieser Zeit. Das führte dazu, dass sich der Schwerpunkt der Theaterszene nach Ostberlin verlagerte. Das ist mit Blick auf die gesamtdeutsche Entwicklung bemerkenswert – also eine Berliner Besonderheit. Dann gab es noch eine Reihe interessanter künstlerischer und theaterpolitischer Projekte: z. B. der Versuch einer kollektiven Leitung am Berliner Ensemble in den Jahren 1992 bis 1994, bei der man versuchte, west- und ostdeutsche Theatergrößen zusammenzubringen. Das führte schnell zu Konflikten, etwa zwischen Peter Zadek und Heiner Müller, in denen man merkte, dass die beiden Theatertraditionen doch nicht so leicht zusammenzuspannen waren. Ab der Spielzeit 1992/93 kamen die Experimente an Castorfs Volksbühne hinzu, die schnell von bundesweiter Bedeutung waren.

 

30 Jahre nach dem Mauerfall: Inwiefern hat sich mittlerweile eine Gesamtberliner Theaterlandschaft herausgebildet?
Für alle, die die Zeit vor 1989 nicht mehr selbst im Theater erlebt haben, stellt es sich als eine Gesamtberliner Theaterszene dar. Sie unterscheidet sich von der Situation in anderen deutschen Großstädten, wo es meist ein oder zwei Theater sind, die das städtische Theaterleben prägen. In Berlin hat man diese besondere Multipolarität, in der weiterhin auch Platz ist für Positionen, die sich aus der Tradition des DDR-Theaters entwickelt haben, an großen Häusern wie Volksbühne oder Berliner Ensemble, aber auch in der Kinder- und Jugendtheaterszene und im Figurentheater.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


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