Gemeinsames Erbe von Natur und Kultur

Praktiken Immateriellen Kulturerbes als Formen der Beheimatung

 

Beheimatung durch Immaterielles Kulturerbe
Prinzipiell leisten alle Konventionen und Programme der UNESCO, die der Bewahrung und Weitergabe des Kultur- und Naturerbe der Menschheit dienen, durch die Vermittlung von Sinn und Gemeinsamkeit einen Beitrag zur Beheimatung der Menschen.
Beim Immateriellen Kulturerbe ist dies aus folgenden stichwortartig skizzierten Gründen in besonderem Maße der Fall.

 

Der menschliche Körper
Im Immateriellen Kulturerbe spielt der plastische menschliche Körper die zentrale Rolle. Wenn Menschen an immateriellen Kulturpraktiken teilnehmen, so bedienen sie sich dazu ihres Körpers. Dadurch schreiben sich diese kulturellen Praktiken in den Körper ein. Im Tanzen werden diese Praktiken Teil seiner Bewegungsmöglichkeiten. Im Körper entsteht eine Matrix mit den entsprechenden Bewegungspotenzialen, die bei der Aufführung bestimmter Praktiken aktiviert werden. Entsprechendes gilt für Gesänge oder rituelle Bewegungen und Bräuche. Indem diese kulturellen Praktiken Teil des Körpers und des Imaginären werden, vollzieht sich eine Enkulturation des Körpers und des Imaginären. Dies gilt nicht nur für die darstellenden Künste, sozialen Praktiken, Rituale und Feste, sondern auch für orale Traditionen, Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum sowie für die traditionellen Handwerkstechniken.

 

Der performative Charakter
Die Praktiken des Kulturerbes sind performativ. Sie beruhen auf traditionellen Inszenierungen, die Kontinuität und Sicherheit vermitteln. Jede Aufführung einer sozialen Praxis ist jedoch neu aufgeführt und bietet die Möglichkeit zur Veränderung und Innovation. Kinder wachsen in Praktiken hinein, die bereits ihre Eltern als Kinder vollzogen haben. Betont der Begriff der Inszenierung das traditionelle, fokussiert der Begriff der Aufführung das jeweils neue Element jeder Aufführung. Wenn sich Migranten an immateriellen kulturellen Praktiken beteiligen, kann dies sie in dem Prozess unterstützen, Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften zu werden. So kann ein Muslim z. B. Schützenkönig und damit ein anerkanntes Mitglied einer Gemeinschaft werden. Die performative Seite eines Rituals, Festes und Brauchs stellt sicher, dass nicht nur rationale, sondern auch körperliche und emotionale, soziale und ästhetische Aspekte eine Rolle spielen.

 

Ritual und Ritualisierung
Viele immaterielle Kulturpraktiken bestehen aus Ritualen oder haben rituelle Komponenten. Sie sind Inszenierungen und Aufführungen, die wiederholt werden. Ihre Lebendigkeit lebt davon, dass Wiederholungen jedes Mal produktive Neuschöpfungen sind, deren Aufführung sich von vorausgegangenen unterscheidet. Rituale sind performativ, repetitiv, ostentativ. Sie drücken etwas aus und bringen zur Darstellung, was für die Gemeinschaft konstitutiv ist. Rituale haben die Möglichkeit, durch gemeinsames Aufführen und Handeln kulturelle und soziale Differenzen zu bearbeiten und liefern dadurch einen wichtigen Beitrag zur Entstehung, Bestätigung und Modifikation von Gemeinschaften. Sie erzeugen das Soziale und tragen dazu bei, Identitäten zu entwickeln. Rituale können Fremde dabei unterstützen, sich in Gemeinschaften zu integrieren und zu beheimaten.

 

Beheimatung als mimetischer Prozess
Immaterielle kulturelle Praktiken werden mimetisch erworben. In mimetischen Prozessen erfolgen eine kreative Nachahmung, Anähnlichung und Aneignung. Mimetische Prozesse beginnen in der frühen Kindheit und vollziehen sich während des ganzen Lebens. Am Beispiel des Chorsingens lässt sich ihre Bedeutung verdeutlichen. Die Fähigkeit zum Chorsingen entwickelt sich zunächst dadurch, dass Jugendliche sich auf Erwachsene beziehen, sich ihnen gegenüber mimetisch verhalten und sich im gemeinsamen Singen ihnen anähneln. In diesem Prozess nehmen sie gleichsam einen „Abdruck“ der kulturellen Praxis der Erwachsenen und machen ihn zu einem Teil ihrer selbst. Auch um das Gelingen einer gemeinsamen Chor-Praxis sicherzustellen, ist eine wechselseitige mimetische Bezugnahme erforderlich. Ein solcher Prozess kann zur Integration in eine Gemeinschaft und damit zur Beheimatung beitragen.

 

Kulturelle Diversität und Alterität
Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes sind wie Fenster, durch die man in die Tiefenstrukturen der eigenen und der fremden Kulturen blicken und diese besser verstehen kann. Sie lassen eine kulturelle Diversität und Alterität im Vertrauten und im Fremden erfahren und bieten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Bildung und Beheimatung der Menschen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Christoph Wulf
Christoph Wulf ist Professor für Erziehung und Anthropologie an der Freien Universität Berlin, Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) und Vorsitzender der Expertenkommission "Immaterielles Kulturelles Erbe" der DUK.
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