Gemeinsames Erbe von Natur und Kultur

Praktiken Immateriellen Kulturerbes als Formen der Beheimatung

Immaterielles Kulturelles Erbe ist ein wichtiger Bestandteil des Erbes der Menschheit, das nicht nur unterschiedliche Kulturen, sondern auch die Natur umfasst, in die der Mensch immer stärker verändernd eingreift. In einer durch die Globalisierung gekennzeichneten Zeit, in der viele Entwicklungen auf die Herstellung einer homogenen Welt ausgerichtet sind, kommt den Praktiken Immateriellen Kulturerbes erhebliche Bedeutung zu. Sie fokussieren partikulare kulturelle Praktiken und unterstützen dadurch die Erhaltung und Weitergabe kultureller Differenz und Vielfalt. Indem sie den Menschen die Möglichkeit geben, sich in ihrer Unterschiedlichkeit auszudrücken, darzustellen und sichtbar zu machen, können sie auch Verlusterfahrungen kompensieren, die infolge der Homogenisierungs- und Universalisierungstendenzen der Globalisierung entstehen.

 

Die UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003 zielt darauf, die Bedeutung der weltweit unterschiedlichen Praktiken Immateriellen Kulturerbes deutlich zu machen, sie als Ausdruck kultureller Eigenart a) zu erhalten, b) anzuerkennen und wertzuschätzen, c) ihre Bedeutung für die jeweilige Gesellschaft und Kultur bewusst zu machen und sie d) zur internationalen Zusammenarbeit zu nutzen. Unter dem Motto „Wissen. Können. Weitergeben“ wird diese Konvention, der die Bundesrepublik Deutschland 2013 beigetreten ist, in mehreren Schritten umgesetzt. In ihr werden lebendige Praktiken z. B. aus den Bereichen Musik, Tanz, Theater, soziale Praktiken und Handwerk als Träger von Kultur ausgewählt und ausgezeichnet. Bisher sind im Rahmen dieser Konvention 508 Beiträge aus 122 Ländern auf den UNESCO-Listen ausgezeichnet worden. Auf der bundesweiten Liste, der in Deutschland ausgezeichneten Praktiken, befinden sich zurzeit 97 Eintragungen.

 

Diese Übereinkunft muss im Kontext anderer Konventionen und Programme der UNESCO gesehen werden, denen es ebenfalls um die Bewahrung des Kultur- und Naturerbes der Menschheit geht und die ebenfalls einen Beitrag zur Beheimatung der Menschen liefern können. Um diese Möglichkeiten auszudehnen, bedarf es der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Programmen. In deren Rahmen ist die Offenheit für neue Herausforderungen wie die Inklusion neuer Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen eine wichtige Aufgabe.

 

In der Öffentlichkeit ist die Welterbe-Konvention besonders bekannt, auf deren Liste die Einschreibungen „Teile des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen“, wie es in der Präambel der Welterbekonvention von 1972 heißt. Hinzu kommen die UNESCO-Konvention zum Weltdokumentenerbe „Memory of the World“ und die UNESCO-Programme „Der Mensch und die Biosphäre“ und die „Geoparks“, die alle einen kreativen Umgang der Menschen mit dem gemeinsamen Erbe von Natur und Kultur fördern wollen.

 

Die Liste des Weltdokumentenerbes enthält z. B. die Göttinger Gutenberg-Bibel, die frühen Schriften Luthers, die Archive des Warschauer Ghettos, die Kolonialarchive Benins, Senegals und Tansanias, die Sammlung indigener Sprachen in Mexiko und das Benz-Patent als Geburtsurkunde des Automobils von 1886. Das Biosphärenprogramm umfasst weltweit 686 Reservate in 122 Ländern, davon 16 mit drei Prozent der Landfläche in Deutschland. Zu ihnen gehören z.B. der Spreewald, der Schwarzwald und die Flusslandschaft Elbe. Die weltweit 140 Geoparks mit ihren bedeutenden Fossilfundstellen, Höhlen, Bergwerken oder Felsformationen befinden sich in 38 Ländern. Davon liegen sechs mit sechseinhalb Prozent der Landfläche in Deutschland. Zu ihnen gehören z. B. die Vulkaneifel, die Schwäbische Alb und die Bergstraße-Odenwald-Region. Sie bieten die Möglichkeit, auf den Spuren der Vergangenheit den Planeten Erde und die Bedingungen des Lebens besser kennen und verstehen zu lernen.

 

Immaterielles Kulturerbe

 

Unter Immateriellem Kulturerbe sind gemäß Artikel 2 der UNESCO-Konvention von 2003 „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – zu verstehen, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“. Das Immaterielle Kulturerbe umfasst folgende mit Beispielen aus Deutschland konkretisierte fünf Bereiche:

 

1. mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des Immateriellen Kulturerbes; dazu gehören in Deutschland unter anderem Märchenerzählen, Poetry-Slam im deutschsprachigen Raum, Erforschung und Dokumentation von Flur- und Hausnamen in Bayern;
2. darstellende Künste, z. B. Niederdeutsches Theater, Passionsspiele Oberammergau, Posaunenchöre, die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft;
3. gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste, wie Rheinischer Karneval, Schwäbisch-Alemannische Fastnacht, Lindenkirchweih Limmersdorf;
4. Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum wie das Kneippen, das Hebammenwesen, die Tradition des Schäferlaufs und Schäferhandwerks in Markgröningen, Bad Urach und Wildberg, Hochalpine Allgäuer Alpwirtschaftskultur in Bad Hindelang;
5. traditionelle Handwerkstechniken wie Orgelbau, Köhlerhandwerk und Teerschwelerei, Porzellanmalerei.

 

Im Unterschied zum Welterbe, dessen Gegenstände sich nach festgelegten Kriterien klar bezeichnen lassen, ist das Feld des Immateriellen Kulturerbes trotz der obigen Untergliederung nicht so leicht bestimmbar. Dafür gibt es viele Gründe. Einer liegt in der fehlenden Eindeutigkeit des Kulturbegriffs. Dieser changiert zwischen Kultur im engeren Sinne und der damit verbundenen Bezeichnung vielfältiger künstlerischer Praktiken und Kultur im weiteren Sinne, wie er in der Kulturanthropologie verwendet wird. Je nachdem, welcher Kulturbegriff zugrunde gelegt wird, fallen die Auswahl­entscheidungen unterschiedlich aus. Ein weiterer Grund ergibt sich bei der Auswahl von Praktiken des Kulturerbes in den großen Städten. Aufgrund der hier anzutreffenden hohen Mobilität ist es häufig für Immaterielle kulturelle Praktiken nicht einfach, die erforderliche zeitliche Dauer zu erreichen. Schließlich schafft die „Superdiversität“ der Menschen mit mehr als 150 unterschiedlichen Migrationshintergründen neue Bedingungen für die Entstehung von Praktiken Immateriellen Kulturerbes in den urbanen Zentren.

Christoph Wulf
Christoph Wulf ist Professor für Erziehung und Anthropologie an der Freien Universität Berlin, Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) und Vorsitzender der Expertenkommission "Immaterielles Kulturelles Erbe" der DUK.
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