Christoph Wulf - 26. Februar 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Heimat-Kunst

Gemeinsames Erbe von Natur und Kultur


Praktiken Immateriellen Kulturerbes als Formen der Beheimatung

Immaterielles Kulturelles Erbe ist ein wichtiger Bestandteil des Erbes der Menschheit, das nicht nur unterschiedliche Kulturen, sondern auch die Natur umfasst, in die der Mensch immer stärker verändernd eingreift. In einer durch die Globalisierung gekennzeichneten Zeit, in der viele Entwicklungen auf die Herstellung einer homogenen Welt ausgerichtet sind, kommt den Praktiken Immateriellen Kulturerbes erhebliche Bedeutung zu. Sie fokussieren partikulare kulturelle Praktiken und unterstützen dadurch die Erhaltung und Weitergabe kultureller Differenz und Vielfalt. Indem sie den Menschen die Möglichkeit geben, sich in ihrer Unterschiedlichkeit auszudrücken, darzustellen und sichtbar zu machen, können sie auch Verlusterfahrungen kompensieren, die infolge der Homogenisierungs- und Universalisierungstendenzen der Globalisierung entstehen.

 

Die UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003 zielt darauf, die Bedeutung der weltweit unterschiedlichen Praktiken Immateriellen Kulturerbes deutlich zu machen, sie als Ausdruck kultureller Eigenart a) zu erhalten, b) anzuerkennen und wertzuschätzen, c) ihre Bedeutung für die jeweilige Gesellschaft und Kultur bewusst zu machen und sie d) zur internationalen Zusammenarbeit zu nutzen. Unter dem Motto „Wissen. Können. Weitergeben“ wird diese Konvention, der die Bundesrepublik Deutschland 2013 beigetreten ist, in mehreren Schritten umgesetzt. In ihr werden lebendige Praktiken z. B. aus den Bereichen Musik, Tanz, Theater, soziale Praktiken und Handwerk als Träger von Kultur ausgewählt und ausgezeichnet. Bisher sind im Rahmen dieser Konvention 508 Beiträge aus 122 Ländern auf den UNESCO-Listen ausgezeichnet worden. Auf der bundesweiten Liste, der in Deutschland ausgezeichneten Praktiken, befinden sich zurzeit 97 Eintragungen.

 

Diese Übereinkunft muss im Kontext anderer Konventionen und Programme der UNESCO gesehen werden, denen es ebenfalls um die Bewahrung des Kultur- und Naturerbes der Menschheit geht und die ebenfalls einen Beitrag zur Beheimatung der Menschen liefern können. Um diese Möglichkeiten auszudehnen, bedarf es der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Programmen. In deren Rahmen ist die Offenheit für neue Herausforderungen wie die Inklusion neuer Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen eine wichtige Aufgabe.

 

In der Öffentlichkeit ist die Welterbe-Konvention besonders bekannt, auf deren Liste die Einschreibungen „Teile des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen“, wie es in der Präambel der Welterbekonvention von 1972 heißt. Hinzu kommen die UNESCO-Konvention zum Weltdokumentenerbe „Memory of the World“ und die UNESCO-Programme „Der Mensch und die Biosphäre“ und die „Geoparks“, die alle einen kreativen Umgang der Menschen mit dem gemeinsamen Erbe von Natur und Kultur fördern wollen.

 

Die Liste des Weltdokumentenerbes enthält z. B. die Göttinger Gutenberg-Bibel, die frühen Schriften Luthers, die Archive des Warschauer Ghettos, die Kolonialarchive Benins, Senegals und Tansanias, die Sammlung indigener Sprachen in Mexiko und das Benz-Patent als Geburtsurkunde des Automobils von 1886. Das Biosphärenprogramm umfasst weltweit 686 Reservate in 122 Ländern, davon 16 mit drei Prozent der Landfläche in Deutschland. Zu ihnen gehören z.B. der Spreewald, der Schwarzwald und die Flusslandschaft Elbe. Die weltweit 140 Geoparks mit ihren bedeutenden Fossilfundstellen, Höhlen, Bergwerken oder Felsformationen befinden sich in 38 Ländern. Davon liegen sechs mit sechseinhalb Prozent der Landfläche in Deutschland. Zu ihnen gehören z. B. die Vulkaneifel, die Schwäbische Alb und die Bergstraße-Odenwald-Region. Sie bieten die Möglichkeit, auf den Spuren der Vergangenheit den Planeten Erde und die Bedingungen des Lebens besser kennen und verstehen zu lernen.

 

Immaterielles Kulturerbe

 

Unter Immateriellem Kulturerbe sind gemäß Artikel 2 der UNESCO-Konvention von 2003 „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – zu verstehen, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“. Das Immaterielle Kulturerbe umfasst folgende mit Beispielen aus Deutschland konkretisierte fünf Bereiche:

 

1. mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des Immateriellen Kulturerbes; dazu gehören in Deutschland unter anderem Märchenerzählen, Poetry-Slam im deutschsprachigen Raum, Erforschung und Dokumentation von Flur- und Hausnamen in Bayern;
2. darstellende Künste, z. B. Niederdeutsches Theater, Passionsspiele Oberammergau, Posaunenchöre, die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft;
3. gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste, wie Rheinischer Karneval, Schwäbisch-Alemannische Fastnacht, Lindenkirchweih Limmersdorf;
4. Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum wie das Kneippen, das Hebammenwesen, die Tradition des Schäferlaufs und Schäferhandwerks in Markgröningen, Bad Urach und Wildberg, Hochalpine Allgäuer Alpwirtschaftskultur in Bad Hindelang;
5. traditionelle Handwerkstechniken wie Orgelbau, Köhlerhandwerk und Teerschwelerei, Porzellanmalerei.

 

Im Unterschied zum Welterbe, dessen Gegenstände sich nach festgelegten Kriterien klar bezeichnen lassen, ist das Feld des Immateriellen Kulturerbes trotz der obigen Untergliederung nicht so leicht bestimmbar. Dafür gibt es viele Gründe. Einer liegt in der fehlenden Eindeutigkeit des Kulturbegriffs. Dieser changiert zwischen Kultur im engeren Sinne und der damit verbundenen Bezeichnung vielfältiger künstlerischer Praktiken und Kultur im weiteren Sinne, wie er in der Kulturanthropologie verwendet wird. Je nachdem, welcher Kulturbegriff zugrunde gelegt wird, fallen die Auswahl­entscheidungen unterschiedlich aus. Ein weiterer Grund ergibt sich bei der Auswahl von Praktiken des Kulturerbes in den großen Städten. Aufgrund der hier anzutreffenden hohen Mobilität ist es häufig für Immaterielle kulturelle Praktiken nicht einfach, die erforderliche zeitliche Dauer zu erreichen. Schließlich schafft die „Superdiversität“ der Menschen mit mehr als 150 unterschiedlichen Migrationshintergründen neue Bedingungen für die Entstehung von Praktiken Immateriellen Kulturerbes in den urbanen Zentren.

 

Beheimatung durch Immaterielles Kulturerbe
Prinzipiell leisten alle Konventionen und Programme der UNESCO, die der Bewahrung und Weitergabe des Kultur- und Naturerbe der Menschheit dienen, durch die Vermittlung von Sinn und Gemeinsamkeit einen Beitrag zur Beheimatung der Menschen.
Beim Immateriellen Kulturerbe ist dies aus folgenden stichwortartig skizzierten Gründen in besonderem Maße der Fall.

 

Der menschliche Körper
Im Immateriellen Kulturerbe spielt der plastische menschliche Körper die zentrale Rolle. Wenn Menschen an immateriellen Kulturpraktiken teilnehmen, so bedienen sie sich dazu ihres Körpers. Dadurch schreiben sich diese kulturellen Praktiken in den Körper ein. Im Tanzen werden diese Praktiken Teil seiner Bewegungsmöglichkeiten. Im Körper entsteht eine Matrix mit den entsprechenden Bewegungspotenzialen, die bei der Aufführung bestimmter Praktiken aktiviert werden. Entsprechendes gilt für Gesänge oder rituelle Bewegungen und Bräuche. Indem diese kulturellen Praktiken Teil des Körpers und des Imaginären werden, vollzieht sich eine Enkulturation des Körpers und des Imaginären. Dies gilt nicht nur für die darstellenden Künste, sozialen Praktiken, Rituale und Feste, sondern auch für orale Traditionen, Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum sowie für die traditionellen Handwerkstechniken.

 

Der performative Charakter
Die Praktiken des Kulturerbes sind performativ. Sie beruhen auf traditionellen Inszenierungen, die Kontinuität und Sicherheit vermitteln. Jede Aufführung einer sozialen Praxis ist jedoch neu aufgeführt und bietet die Möglichkeit zur Veränderung und Innovation. Kinder wachsen in Praktiken hinein, die bereits ihre Eltern als Kinder vollzogen haben. Betont der Begriff der Inszenierung das traditionelle, fokussiert der Begriff der Aufführung das jeweils neue Element jeder Aufführung. Wenn sich Migranten an immateriellen kulturellen Praktiken beteiligen, kann dies sie in dem Prozess unterstützen, Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften zu werden. So kann ein Muslim z. B. Schützenkönig und damit ein anerkanntes Mitglied einer Gemeinschaft werden. Die performative Seite eines Rituals, Festes und Brauchs stellt sicher, dass nicht nur rationale, sondern auch körperliche und emotionale, soziale und ästhetische Aspekte eine Rolle spielen.

 

Ritual und Ritualisierung
Viele immaterielle Kulturpraktiken bestehen aus Ritualen oder haben rituelle Komponenten. Sie sind Inszenierungen und Aufführungen, die wiederholt werden. Ihre Lebendigkeit lebt davon, dass Wiederholungen jedes Mal produktive Neuschöpfungen sind, deren Aufführung sich von vorausgegangenen unterscheidet. Rituale sind performativ, repetitiv, ostentativ. Sie drücken etwas aus und bringen zur Darstellung, was für die Gemeinschaft konstitutiv ist. Rituale haben die Möglichkeit, durch gemeinsames Aufführen und Handeln kulturelle und soziale Differenzen zu bearbeiten und liefern dadurch einen wichtigen Beitrag zur Entstehung, Bestätigung und Modifikation von Gemeinschaften. Sie erzeugen das Soziale und tragen dazu bei, Identitäten zu entwickeln. Rituale können Fremde dabei unterstützen, sich in Gemeinschaften zu integrieren und zu beheimaten.

 

Beheimatung als mimetischer Prozess
Immaterielle kulturelle Praktiken werden mimetisch erworben. In mimetischen Prozessen erfolgen eine kreative Nachahmung, Anähnlichung und Aneignung. Mimetische Prozesse beginnen in der frühen Kindheit und vollziehen sich während des ganzen Lebens. Am Beispiel des Chorsingens lässt sich ihre Bedeutung verdeutlichen. Die Fähigkeit zum Chorsingen entwickelt sich zunächst dadurch, dass Jugendliche sich auf Erwachsene beziehen, sich ihnen gegenüber mimetisch verhalten und sich im gemeinsamen Singen ihnen anähneln. In diesem Prozess nehmen sie gleichsam einen „Abdruck“ der kulturellen Praxis der Erwachsenen und machen ihn zu einem Teil ihrer selbst. Auch um das Gelingen einer gemeinsamen Chor-Praxis sicherzustellen, ist eine wechselseitige mimetische Bezugnahme erforderlich. Ein solcher Prozess kann zur Integration in eine Gemeinschaft und damit zur Beheimatung beitragen.

 

Kulturelle Diversität und Alterität
Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes sind wie Fenster, durch die man in die Tiefenstrukturen der eigenen und der fremden Kulturen blicken und diese besser verstehen kann. Sie lassen eine kulturelle Diversität und Alterität im Vertrauten und im Fremden erfahren und bieten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Bildung und Beheimatung der Menschen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.


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