Muss diese Figur männlich sein?

Geschlechtergerechtigkeit in Fernsehen und Kino

 

Sie engagieren sich bereits seit vielen Jahren für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Film und Fernsehen. Schon vor MeToo waren Sie aktiv. Ergreift der Bewusstseinswandel endlich auch Personen mit Einfluss in Filmproduktionen oder Redaktionen?
Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Einiges ist in Bewegung, aber inwieweit das aufgrund eines gewandelten Bewusstseins geschieht oder weil es gerade angesagt ist, weiß ich nicht. Manches ist gut gemeint, greift aber zu kurz. Nehmen wir das Beispiel Regie: Endlich ist hier die Benachteiligung von Frauen Thema. Es gibt Zielvorgaben, wie z. B. die – niedrige – 20-Prozent-Quote für Tatorte von Degeto Film. Aber nicht einmal die wird erreicht, und die anderen Kerngewerke, allen voran Drehbuch und Kamera, werden ignoriert und bleiben weiter in Männerhand. Das heißt, die Geschichte hat ein Mann geschrieben, die Bilder stammen von einem Mann. Da kann es schwer werden für eine Regisseurin, die Perspektive des Films zu ändern. Wobei es machbar ist. Julia von Heinz hat sogar bei ihrem preisgekrönten »Für immer und dich«-Tatort NEROPA angewendet!

 

Ihre NEROPA-Methode ist ein denkbar einfaches Tool für mehr Diversität in Handlungen. In der Umsetzung ist es auch kein Kostentreiber. Warum wird NEROPA in Deutschland nicht häufiger angewendet?
Tatsächlich weiß ich gar nicht, wie häufig es bereits angewendet wird, denn ich bekomme selten Feedback. Das ist sehr schade, denn über die „denkbar einfache“ Anwendung hinaus, also den NEROPA-Check und den Feinschliff, kann beispielsweise ein praktischer Workshop Umsetzungsmissverständnisse verhindern und zu einer Auseinandersetzung mit eigenen Klischeevorstellungen, Stereotypen und Denkmustern führen. NEROPA bleibt also nicht an der Oberfläche und ist keine Ergebniskosmetik.
Aber vielleicht ist das dann schon wieder zu viel. Und es fehlt der Mut zu wirklicher Veränderung. Immer wird mit Sorge auf die Einschaltquote geschaut. Das deutsche Fernsehen wie auch das Kino sind oft recht konservativ: Etwas ist erfolgreich, also wird genau das Gleiche noch einmal produziert. Neue Wege zu gehen, macht anscheinend Angst.

 

Haben Sie diesbezüglich im Ausland andere Erfahrungen gemacht?
Ja, beispielsweise in Großbritannien und Irland sind sie deutlich weiter. Sowohl was neue öffentlich-rechtliche Formate und Inhalte als auch Bedingungen für Fördermittel und Weiterbildung des Personals betrifft.
Ich wurde in den letzten Jahren mehrfach mit NEROPA auf die Britischen Inseln eingeladen. Erste treibende Kraft war die Schauspielgewerkschaft „Equity UK“ bzw. ihr demokratisch gewählter Frauenausschuss, das „Women‘s Committee“. Sie organisierten Anfang 2018 am British Film Institute (BFI) ein NEROPA Symposium für die Filmbranche. Es folgten Events in Belfast und Dublin.
Auch Women in Film and Television UK (WIFT) gaben mir die Möglichkeit, NEROPA bei einer internationalen Konferenz vorzustellen. Das BFI hat NEROPA in die empfohlenen Maßnahmen zu ihren Diversity Standards aufgenommen. Schließlich wurden die nord-irische Filmförderung, britische Fernsehsender, die Produzentenallianz und andere, die auf der Suche nach Tools sind, um Frauenanteil und Diversität zu steigern, auf NEROPA aufmerksam.

 

Und deutsche Organisationen?
WIFT Germany unterstützt NEROPA und hat mehrere Veranstaltungen zur Situation vor der Kamera gemacht. Beim Schauspielverband BFFS ist die Benachteiligung von Schauspielerinnen – weniger Rollen, niedrigere Gagen, früheres Karriereende – leider noch nicht wirklich angekommen. Das hat vielleicht auch mit den Strukturen und dem seit mehr als zwölf Jahren männerdominierten Vorstand zu tun. NEROPA ist dem BFFS bekannt, wird aber ignoriert.

 

Ganz offensichtlich kann Ihre NEROPA Methode bereits in der Stoffentwicklung bzw. beim Drehbuchschreiben angewendet werden. Wie reagieren denn entsprechende Filmhochschulen auf Ihre Methode?
Unterschiedlich. Es besteht grundsätzliches Interesse, und ich habe auch bereits an einigen Schulen Workshops gegeben bzw. Vorträge gehalten. Weiteres ist in Planung. Manche Hochschulen nennen als Gründe, warum NEROPA nicht unterrichtet oder vorgestellt werden kann, Zeitmangel, zu volle Lehrpläne oder den Glauben, dass „bei uns diesbezüglich alles in Ordnung ist“.
Neben den Filmhochschulen gibt es aber auch noch die individuellen Autorinnen und Autoren. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als der Dramaturgie-Verband VeDra mich zu einem Workshop einlud, um ihre Mitglieder mit NEROPA vertraut zu machen.

 

Wie geht es weiter in 2020?
Ich habe gerade eine Einladung in die Jury vom FernsehKrimi-Festival in Wiesbaden erhalten und schreibe an einem neuen Drehbuch. Ich hoffe auf spannende Rollenangebote und darauf, dass sich NEROPA auch in Deutschland etabliert.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Belinde Ruth Stieve und Cornelie Kunkat
Belinde Ruth Stieve ist Schauspielerin, Autorin und Erfinderin von NEROPA. Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat.
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