Muss diese Figur männlich sein?

Geschlechtergerechtigkeit in Fernsehen und Kino

NEROPA steht für NEutrale ROllen PArität, eine Methode, die im ersten Schritt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in Drehbüchern führt, und in einem zweiten für eine vielfältigere Besetzung sorgt.

 

Belinde Ruth Stieve, Schauspielerin und Ideengeberin, bezeichnet NEROPA als „Gender & Diversity Tool“. Mit einer einfachen Vorgehensweise will NEROPA Produktionen ermöglichen, eine lebensnahe Vielfalt von Charakteren in Filmen oder Theaterstücken abzubilden.

 

Die Durchführung der Methode wird idealerweise einem Dreier-Team übertragen, bestehend aus Personen verschiedener Abteilungen, wie Casting, Regie, Produktion, Drehbuch oder Redaktion. Diese überprüfen zunächst einzeln das Drehbuch und kennzeichnen alle Figuren als neutral, die ihrer Meinung nach jedes Geschlecht haben könnten – egal wie groß oder klein die Rollen sind, ob sie bereits einen Namen haben oder nicht. Für diesen Prozess eignet sich die Hilfsfrage: Muss diese Figur männlich sein?

 

Anschließend kommt das Trio zusammen und einigt sich auf die neutralen Figuren. Diese werden im Wechsel als Frau-Mann-Frau-Mann festgelegt. Das Drehbuch wird entsprechend angepasst, z. B. durch Änderung der Namen und Pronomen – fertig! Die endgültige Rollenliste steht, die Besetzungsarbeit kann beginnen.

 

Darauf folgt der „NEROPA Feinschliff“: Damit können die Personen, die für die Besetzung verantwortlich sind, alle Figuren noch weiter diversifizieren. Wenn Story, Setting und Rollen es erlauben, können diese in Bezug auf Alter, Ethnizität, Körperlichkeit, Sexualität, Schwangerschaft, (Nicht-)Behinderung sowie ihren sozioökonomischen Hintergrund und Berufe bunt besetzt werden. Hier eignet sich die Hilfsfrage: Muss diese Figur weiß, jung, gut aussehend, makellos und schlank sein?

 

Das NEROPA-Prinzip kann bereits in der Stoffentwicklung angewendet werden. So entstehen weniger unnötig männerlastige Geschichten mit stereotypen Figuren.

 

Cornelie Kunkat spricht mit Belinde Ruth Stieve über dieses Instrument für geschlechtergerechte Drehbücher.

 

Cornelie Kunkat: Eine Ausgeglichenheit zwischen männlichen und weiblichen Rollen ist weder in deutschen Kino- noch Fernsehproduktionen Realität. Dies hat sowohl negative Konsequenzen für Schauspielerinnen als auch für die Tradierung von Rollenklischees. Können Sie das Verhältnis beziffern?
Belinde Ruth Stieve: Das ist für jeden Film anders, mal ist es relativ ausgeglichen, mal gibt es doppelt so viele Männer- wie Frauenrollen, mal vier- oder zehnmal mehr. Das hängt auch mit den Geschichten zusammen und ist selbstverständlich in Ordnung. Es braucht nicht jeder Film einen 50:50-Cast. Allerdings, wenn wir eine Filmreihe oder einen Kinojahrgang betrachten und die Filme in der Gesamtheit immer noch zwei- bis dreimal mehr Männerfiguren aufweisen, dann haben wir ein Problem. Und das ist ja schon seit Jahren so.

 

Woran liegt das?
Zum einen an den produzierten, in Auftrag gegebenen bzw. geförderten Stoffen. Die handeln immer noch überwiegend von Männern und spielen in Männerwelten oder -kreisen. So gibt es fast keine Filme mit Frauenrollenübergewicht, die den Männerfilmen die Waage halten könnten. Zum anderen liegt es an den neutralen Rollen, wie ich sie nenne, die gewohnheitsmäßig als männlich geschrieben werden.
Zudem wird selten das Ensemble, also die Gesamtheit aller Rollen in den Blick genommen. Der Fokus liegt auf den Hauptrollen. Manchmal werden neue Kommissarinnen oder andere weibliche Hauptfiguren erfunden, aber das Ungleichgewicht bei den Neben- und Tagesrollen vernachlässigt. Das ist nationale wie internationale Normalität.

 

Können Sie ein prägnantes Filmbeispiel nennen?
Vor einigen Jahren wurde der Blockbuster „Rogue One: A Star Wars Story“ in Hollywood als „female-led“ gefeiert. Ja, es steht eine junge Frau im Zentrum, allerdings gemeinsam mit sechs, sehr divers besetzten Männern. Ich glaube, es gab noch zwei weitere weibliche Figuren, eine war die Mutter der jungen Frau, die ganz am Anfang ermordet wurde, ansonsten Männer. Also auch nicht wirklich besser als der erste Star-Wars-Film vier Jahrzehnte zuvor.

 

Und ein deutsches?
„Babylon Berlin“. Drei Regisseure, die auch die Drehbücher schrieben, drei Produzenten, drei Kameramänner. Keine Autorin. Keine Dramaturgin. Kein NEROPA. Mehr als dreieinhalbmal so viele Männer- wie Frauenrollen.
Und dann die Sache mit Charlotte. Die junge weibliche Hauptfigur – an der Seite von drei Männern – stammt in der Romanvorlage aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, studiert Jura und jobbt nebenbei bei der Polizei. Die Regisseure machten aus ihr eine Proletarierin, die aber gebildet ist und Steno kann, im Gegensatz zu den anderen aus ihrer Klasse bildhübsch, sauber, reine Haut, perfekte Zähne, wortgewandt. Warum konnte sie nicht bleiben, was sie war? Und wenn schon Nachtclub, warum Prostituierte und nicht Zigarettenverkäuferin? Das bedient doch ein uraltes Klischee.

Belinde Ruth Stieve und Cornelie Kunkat
Belinde Ruth Stieve ist Schauspielerin, Autorin und Erfinderin von NEROPA. Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur und Medien beim Deutschen Kulturrat.
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