Belinde Ruth Stieve und Cornelie Kunkat - 30. Januar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

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Muss diese Figur männlich sein?


Geschlechtergerechtigkeit in Fernsehen und Kino

NEROPA steht für NEutrale ROllen PArität, eine Methode, die im ersten Schritt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in Drehbüchern führt, und in einem zweiten für eine vielfältigere Besetzung sorgt.

 

Belinde Ruth Stieve, Schauspielerin und Ideengeberin, bezeichnet NEROPA als „Gender & Diversity Tool“. Mit einer einfachen Vorgehensweise will NEROPA Produktionen ermöglichen, eine lebensnahe Vielfalt von Charakteren in Filmen oder Theaterstücken abzubilden.

 

Die Durchführung der Methode wird idealerweise einem Dreier-Team übertragen, bestehend aus Personen verschiedener Abteilungen, wie Casting, Regie, Produktion, Drehbuch oder Redaktion. Diese überprüfen zunächst einzeln das Drehbuch und kennzeichnen alle Figuren als neutral, die ihrer Meinung nach jedes Geschlecht haben könnten – egal wie groß oder klein die Rollen sind, ob sie bereits einen Namen haben oder nicht. Für diesen Prozess eignet sich die Hilfsfrage: Muss diese Figur männlich sein?

 

Anschließend kommt das Trio zusammen und einigt sich auf die neutralen Figuren. Diese werden im Wechsel als Frau-Mann-Frau-Mann festgelegt. Das Drehbuch wird entsprechend angepasst, z. B. durch Änderung der Namen und Pronomen – fertig! Die endgültige Rollenliste steht, die Besetzungsarbeit kann beginnen.

 

Darauf folgt der „NEROPA Feinschliff“: Damit können die Personen, die für die Besetzung verantwortlich sind, alle Figuren noch weiter diversifizieren. Wenn Story, Setting und Rollen es erlauben, können diese in Bezug auf Alter, Ethnizität, Körperlichkeit, Sexualität, Schwangerschaft, (Nicht-)Behinderung sowie ihren sozioökonomischen Hintergrund und Berufe bunt besetzt werden. Hier eignet sich die Hilfsfrage: Muss diese Figur weiß, jung, gut aussehend, makellos und schlank sein?

 

Das NEROPA-Prinzip kann bereits in der Stoffentwicklung angewendet werden. So entstehen weniger unnötig männerlastige Geschichten mit stereotypen Figuren.

 

Cornelie Kunkat spricht mit Belinde Ruth Stieve über dieses Instrument für geschlechtergerechte Drehbücher.

 

Cornelie Kunkat: Eine Ausgeglichenheit zwischen männlichen und weiblichen Rollen ist weder in deutschen Kino- noch Fernsehproduktionen Realität. Dies hat sowohl negative Konsequenzen für Schauspielerinnen als auch für die Tradierung von Rollenklischees. Können Sie das Verhältnis beziffern?
Belinde Ruth Stieve: Das ist für jeden Film anders, mal ist es relativ ausgeglichen, mal gibt es doppelt so viele Männer- wie Frauenrollen, mal vier- oder zehnmal mehr. Das hängt auch mit den Geschichten zusammen und ist selbstverständlich in Ordnung. Es braucht nicht jeder Film einen 50:50-Cast. Allerdings, wenn wir eine Filmreihe oder einen Kinojahrgang betrachten und die Filme in der Gesamtheit immer noch zwei- bis dreimal mehr Männerfiguren aufweisen, dann haben wir ein Problem. Und das ist ja schon seit Jahren so.

 

Woran liegt das?
Zum einen an den produzierten, in Auftrag gegebenen bzw. geförderten Stoffen. Die handeln immer noch überwiegend von Männern und spielen in Männerwelten oder -kreisen. So gibt es fast keine Filme mit Frauenrollenübergewicht, die den Männerfilmen die Waage halten könnten. Zum anderen liegt es an den neutralen Rollen, wie ich sie nenne, die gewohnheitsmäßig als männlich geschrieben werden.
Zudem wird selten das Ensemble, also die Gesamtheit aller Rollen in den Blick genommen. Der Fokus liegt auf den Hauptrollen. Manchmal werden neue Kommissarinnen oder andere weibliche Hauptfiguren erfunden, aber das Ungleichgewicht bei den Neben- und Tagesrollen vernachlässigt. Das ist nationale wie internationale Normalität.

 

Können Sie ein prägnantes Filmbeispiel nennen?
Vor einigen Jahren wurde der Blockbuster „Rogue One: A Star Wars Story“ in Hollywood als „female-led“ gefeiert. Ja, es steht eine junge Frau im Zentrum, allerdings gemeinsam mit sechs, sehr divers besetzten Männern. Ich glaube, es gab noch zwei weitere weibliche Figuren, eine war die Mutter der jungen Frau, die ganz am Anfang ermordet wurde, ansonsten Männer. Also auch nicht wirklich besser als der erste Star-Wars-Film vier Jahrzehnte zuvor.

 

Und ein deutsches?
„Babylon Berlin“. Drei Regisseure, die auch die Drehbücher schrieben, drei Produzenten, drei Kameramänner. Keine Autorin. Keine Dramaturgin. Kein NEROPA. Mehr als dreieinhalbmal so viele Männer- wie Frauenrollen.
Und dann die Sache mit Charlotte. Die junge weibliche Hauptfigur – an der Seite von drei Männern – stammt in der Romanvorlage aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, studiert Jura und jobbt nebenbei bei der Polizei. Die Regisseure machten aus ihr eine Proletarierin, die aber gebildet ist und Steno kann, im Gegensatz zu den anderen aus ihrer Klasse bildhübsch, sauber, reine Haut, perfekte Zähne, wortgewandt. Warum konnte sie nicht bleiben, was sie war? Und wenn schon Nachtclub, warum Prostituierte und nicht Zigarettenverkäuferin? Das bedient doch ein uraltes Klischee.

 

Sie engagieren sich bereits seit vielen Jahren für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Film und Fernsehen. Schon vor MeToo waren Sie aktiv. Ergreift der Bewusstseinswandel endlich auch Personen mit Einfluss in Filmproduktionen oder Redaktionen?
Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Einiges ist in Bewegung, aber inwieweit das aufgrund eines gewandelten Bewusstseins geschieht oder weil es gerade angesagt ist, weiß ich nicht. Manches ist gut gemeint, greift aber zu kurz. Nehmen wir das Beispiel Regie: Endlich ist hier die Benachteiligung von Frauen Thema. Es gibt Zielvorgaben, wie z. B. die – niedrige – 20-Prozent-Quote für Tatorte von Degeto Film. Aber nicht einmal die wird erreicht, und die anderen Kerngewerke, allen voran Drehbuch und Kamera, werden ignoriert und bleiben weiter in Männerhand. Das heißt, die Geschichte hat ein Mann geschrieben, die Bilder stammen von einem Mann. Da kann es schwer werden für eine Regisseurin, die Perspektive des Films zu ändern. Wobei es machbar ist. Julia von Heinz hat sogar bei ihrem preisgekrönten »Für immer und dich«-Tatort NEROPA angewendet!

 

Ihre NEROPA-Methode ist ein denkbar einfaches Tool für mehr Diversität in Handlungen. In der Umsetzung ist es auch kein Kostentreiber. Warum wird NEROPA in Deutschland nicht häufiger angewendet?
Tatsächlich weiß ich gar nicht, wie häufig es bereits angewendet wird, denn ich bekomme selten Feedback. Das ist sehr schade, denn über die „denkbar einfache“ Anwendung hinaus, also den NEROPA-Check und den Feinschliff, kann beispielsweise ein praktischer Workshop Umsetzungsmissverständnisse verhindern und zu einer Auseinandersetzung mit eigenen Klischeevorstellungen, Stereotypen und Denkmustern führen. NEROPA bleibt also nicht an der Oberfläche und ist keine Ergebniskosmetik.
Aber vielleicht ist das dann schon wieder zu viel. Und es fehlt der Mut zu wirklicher Veränderung. Immer wird mit Sorge auf die Einschaltquote geschaut. Das deutsche Fernsehen wie auch das Kino sind oft recht konservativ: Etwas ist erfolgreich, also wird genau das Gleiche noch einmal produziert. Neue Wege zu gehen, macht anscheinend Angst.

 

Haben Sie diesbezüglich im Ausland andere Erfahrungen gemacht?
Ja, beispielsweise in Großbritannien und Irland sind sie deutlich weiter. Sowohl was neue öffentlich-rechtliche Formate und Inhalte als auch Bedingungen für Fördermittel und Weiterbildung des Personals betrifft.
Ich wurde in den letzten Jahren mehrfach mit NEROPA auf die Britischen Inseln eingeladen. Erste treibende Kraft war die Schauspielgewerkschaft „Equity UK“ bzw. ihr demokratisch gewählter Frauenausschuss, das „Women‘s Committee“. Sie organisierten Anfang 2018 am British Film Institute (BFI) ein NEROPA Symposium für die Filmbranche. Es folgten Events in Belfast und Dublin.
Auch Women in Film and Television UK (WIFT) gaben mir die Möglichkeit, NEROPA bei einer internationalen Konferenz vorzustellen. Das BFI hat NEROPA in die empfohlenen Maßnahmen zu ihren Diversity Standards aufgenommen. Schließlich wurden die nord-irische Filmförderung, britische Fernsehsender, die Produzentenallianz und andere, die auf der Suche nach Tools sind, um Frauenanteil und Diversität zu steigern, auf NEROPA aufmerksam.

 

Und deutsche Organisationen?
WIFT Germany unterstützt NEROPA und hat mehrere Veranstaltungen zur Situation vor der Kamera gemacht. Beim Schauspielverband BFFS ist die Benachteiligung von Schauspielerinnen – weniger Rollen, niedrigere Gagen, früheres Karriereende – leider noch nicht wirklich angekommen. Das hat vielleicht auch mit den Strukturen und dem seit mehr als zwölf Jahren männerdominierten Vorstand zu tun. NEROPA ist dem BFFS bekannt, wird aber ignoriert.

 

Ganz offensichtlich kann Ihre NEROPA Methode bereits in der Stoffentwicklung bzw. beim Drehbuchschreiben angewendet werden. Wie reagieren denn entsprechende Filmhochschulen auf Ihre Methode?
Unterschiedlich. Es besteht grundsätzliches Interesse, und ich habe auch bereits an einigen Schulen Workshops gegeben bzw. Vorträge gehalten. Weiteres ist in Planung. Manche Hochschulen nennen als Gründe, warum NEROPA nicht unterrichtet oder vorgestellt werden kann, Zeitmangel, zu volle Lehrpläne oder den Glauben, dass „bei uns diesbezüglich alles in Ordnung ist“.
Neben den Filmhochschulen gibt es aber auch noch die individuellen Autorinnen und Autoren. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als der Dramaturgie-Verband VeDra mich zu einem Workshop einlud, um ihre Mitglieder mit NEROPA vertraut zu machen.

 

Wie geht es weiter in 2020?
Ich habe gerade eine Einladung in die Jury vom FernsehKrimi-Festival in Wiesbaden erhalten und schreibe an einem neuen Drehbuch. Ich hoffe auf spannende Rollenangebote und darauf, dass sich NEROPA auch in Deutschland etabliert.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.


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