Globalisierung der Literatur

Literarische Reflexionen von Exil und Migration helfen, Zugehörigkeit neuzudenken

Die Literatur des Exils malt solche Formen des Widerstands und der kreativen Subversion staatlicher Identifizierungspraktiken vielfach aus. Die imaginären Szenarien werden dabei mit grundsätzlichen Fragen nach der Bedeutung nationaler Zugehörigkeit, dem Platz und der Verantwortung der Kulturschaffenden und Alternativen zum nationalen Projekt verknüpft. Was viele am eigenen Leibe erleben, ist die Neubestimmung und vor allem die Entflechtung von staatlicher und kultureller Loyalität. Als Thomas Mann die Rede „Deutschland und die Deutschen“ hielt, war er bereits amerikanischer Staatsbürger, andere Autoren und Autorinnen des Exils nahmen in den Jahren vor und nach 1945 die englische, französische, brasilianische, mexikanische, neuseeländische, niederländische oder schweizerische Staatsbürgerschaft an, die viele bis an ihr Lebensende behielten. Insgesamt kehrten nur etwa fünf Prozent der Exilierten später in ihre Herkunftsländer zurück. Manche, wie Thomas Mann, Alfred Döblin, Carl Zuckmayer oder Wolfgang Hildesheimer, entschieden sich nach ihrer Rückkehr nach Europa ausdrücklich für Wohnorte außerhalb Deutschlands.

 

Das historische Exil aus den von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten erscheint in der Rückschau als markanter Impuls zu einer Globalisierung der Literatur. Die Vervielfältigung und Dezentralisierung der Lebensorte derjenigen, die zur deutschsprachigen Literatur beitrugen, die Erfahrung, in einer fremden Sprachumgebung weiterhin deutsch zu schreiben, aber auch intensiv auf mehrsprachige Verhandlungen und Übersetzungen – oft schon die Erstpublikation eigener Texte betreffend – angewiesen zu sein, haben die Vorstellungen von den Quellen, Zuständigkeiten und Wirkmöglichkeiten von Literatur grundlegend verändert. Heute wird angesichts des bedeutenden Anteils, den Autorinnen und Autoren an der deutschsprachigen Literatur haben, deren erste Sprache nicht Deutsch ist, die andere Sprachen gleichermaßen beherrschen, in denen sie manchmal auch publizieren, und die Erfahrungen von Exil und Migration in ihre Texte einbringen, fragwürdig, ob sich Literatur überhaupt noch sinnvoll in Containern wie „Nationalliteratur“ und „Nationalphilologie“ unterbringen lässt.

 

Die seit 1933 entstehende Exilliteratur wirft bereits ganz ähnliche Fragen auf. Klaus Manns und Georges-Arthur Goldschmidts Autobiografien wurden von ihren Autoren in zwei unterschiedlichen Sprachen, jeweils zuerst in der Sprache des Asyllandes, geschrieben. Die Selbstübersetzung offenbart nicht nur eine große Vertrautheit der Autoren mit beiden Sprachen, sondern lässt das sprachlich erkundete und konstruierte Selbst darüber hinaus an der Schwelle, im Zwischenraum zwischen Sprachen, Ländern und Kulturen, erscheinen, zumal Unterschiede in den Texten erkennbar sind. Peter Weiss, Robert Neumann, Roberto Schopflocher und Ernesto Kroch wechseln zeitweilig die Sprache, publizieren auf Schwedisch, Englisch bzw. Spanisch und sind auf verschiedenen Ebenen als Kulturübersetzer aktiv.

 

Werner Lansburgh gelingt es, sich aus seinem Exilland und späteren Lebensmittelpunkt Schweden heraus wieder in die deutschsprachige Literatur einzuschreiben, indem er mit „Dear Doosie“ einen höchst erfolgreichen Englisch-Lernroman publiziert, der nicht nur unterhaltsam zwischen den Sprachen hin- und herwechselt und dabei auf Fallstricke und Grenzen der Übersetzung hinweist, sondern diese Kompetenz auch sehr deutlich mit der Exilerfahrung verknüpft: „I had better tell you where I got my English from. – Answer in two words: from Hitler.“ Trotz der den Text bestimmenden Leichtigkeit sind Erinnerungen an den Ausschluss deutscher Juden und die Zumutungen des Exils durchaus in den Text eingeflochten. Auch Mascha Kalékos bereits in den 1940er Jahren in New York entstandenen Gedichte und Prosatexte gewinnen aus Sprachmischungen und zum Teil lautgerechter, Rechtschreibregeln konsequent ignorierenden Übersetzungen, wie „Forrenlengvitsch“ und „Apper Broddweh“, eine eigene Ästhetik des Komischen, die zugleich jedoch den tragischen Kontext der durch das Exil verlorenen Sprachheimat aufzeichnet.

 

Bei Kurt Lehmann werden mehrsprachige Passagen, die das Deutsche mit niederländischen Einsprengseln mischen, mit Beschreibungen der Schwierigkeiten verbunden, sich im Exilland zurechtzufinden und neu zu entwerfen. Lehmann, der im Exil aus Gründen der Camouflage den Künstlernamen Konrad Merz annahm – offenbar in Anlehnung an Schwitters’ Avantgarde-Kunstprojekt –, gelingt in seinem Exil-Roman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ selbst ein Schreibexperiment im Horizont avantgardistischer Verfahren. So wird die Erfahrung des Herausfallens aus vertrauten Ordnungen und Sinnzusammenhängen hier auch als Herausforderung in Bezug auf die Versprachlichung des Exils und die es bestimmenden Verluste, Brüche und Heterogenitäten gestaltet. Herta Müller nimmt in ihrer Erzählung „Reisende auf einem Bein“, die unmittelbar nach ihrer Ausreise aus dem Rumänien Ceauceşcus entstand – in einer Zeit, in der sie sich selbst als Exilantin begriff – deutlich auf Konrad Merz‘ historischen Exilroman Bezug, in dem die Frage gestellt wird, ob man auf einem Bein, mit einem schmerzlichen Verlust mithin, leben könne. Indem dieser Verlust in dem späteren Text erinnert wird, bleibt er jedoch Teil eines Zusammenhangs der (Exil-)Literatur, die Ausgegrenztes und vom Vergessen Bedrohtes birgt.

 

Viele Exiltexte der 1930er und 1940er Jahre nehmen ihrerseits auf andere Exile und deren Literarisierungen Bezug, sehr prominent ist der Bezug zu Heinrich Heine, aber auch Ovid und Dante oder das russische Exil werden immer wieder aufgerufen. Dadurch entstehen Bezüge zwischen Exilliteraturen verschiedener Sprachen, Zeiten und Kulturen, die über die jeweilige politische oder biografische Situation hinausweisen. Solche transhistorischen und transnationalen Vernetzungen sind auch in deutschsprachigen Exiltexten der Gegenwart, etwa bei SAID, Adel Karasholi oder Abbas Khider, vielfach erkennbar. Khiders letztes Buch „Deutsch für alle“, eine humorvolle Auseinandersetzung mit den Tücken der deutschen Sprache aus der Perspektive eines Exilanten, ist ein Gedicht Mascha Kalékos vorangestellt. Frühere Romane von ihm, „Der falsche Inder“ oder „Ohrfeige“ stehen in Struktur und Motivik in großer Nähe zu Anna Seghers „Transit“ oder anderen Pass- und Behördengeschichten des historischen Exils. Immer wieder bezieht sich Khider auf Gedichte der Exilantin Hilde Domin, 2013 erhielt er den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil, eine Institution, die den Begriff Exilliteratur zeitlich und räumlich entgrenzt. Auch die virtuelle Ausstellungsplattform „Künste im Exil“ und das in Berlin nun geplante Museum des Exils legen einen Akzent auf die Vernetzungen zwischen den Zeiten und unterschiedlichen Richtungen und Räumen des Exils. Exilliteratur muss und kann nicht eindeutig eingegrenzt und verortet werden: Gerade darin liegt ihre Aktualität für heutige Debatten über Zugehörigkeit, kulturelle Identität und (trans-)nationales Erinnern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.

Doerte Bischoff
Doerte Bischoff ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg und leitet dort die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur.
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