Globalisierung der Literatur

Literarische Reflexionen von Exil und Migration helfen, Zugehörigkeit neuzudenken

Als Thomas Mann 1936 erfährt, dass ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn aberkannt worden ist – eine unmittelbare Reaktion auf den vorausgehenden Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft durch die nationalsozialistischen Behörden – reagiert er prompt: An den verantwortlichen Dekan schreibt er, dass diejenigen, die sich erdreisteten, „mir mein Deutschtum abzusprechen“, nur ihre eigene Lächerlichkeit offenbarten. „Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.“ Thomas Mann, Literaturnobelpreisträger und Instanz der nationalen Kultur, tritt hier aus dem Schweizer Exil heraus als Repräsentant eines Deutschlands auf, das mit dem der Nationalsozialisten nichts zu tun hat. Deren Anspruch, das deutsche Volk, die deutsche Geschichte und Kultur zu vertreten, weist er in der Überzeugung zurück, dass es sich dabei um eine dreiste Lüge handelt, mit der die Vergewaltigung und Usurpation, als die das Geschehen der Machtergreifung eigentlich beschrieben werden müsse, lediglich verdeckt werde.

 

Spätestens 1945, im Angesicht des Zusammenbruchs, an dem das Ausmaß der Katastrophe, in die imperialer Nationalismus und Rassenideologie schließlich geführt haben, deutlich wird, sieht Mann die Dinge anders. Das wahre und das falsche Deutschland lassen sich nicht säuberlich trennen, weder im Innern noch im Exil. Serenus Zeitblom, der Chronist, der in Manns in dieser Zeit entstehendem Roman „Doktor Faustus“ als eine Art innerer Emigrant die politischen Geschehnisse aus nächster Nähe beobachtet und schulmeisterlich beflissen aufzeichnet, ist viel zu sehr in sie verstrickt, um einfach unbeteiligt und unschuldig zu sein. Gleichzeitig lässt sich die Position des Exilanten, der wie Mann auf der anderen Seite des Atlantik, im kalifornischen Exil, über die Bedingungen nachdenkt, die den Faschismus und seine Exzesse, Vertreibung und Vernichtung, möglich gemacht haben, nicht mehr ohne Weiteres als eine des „anderen Deutschlands“ verstehen. Die Einsicht, dass, wer behauptet, Deutscher zu sein und deutsche Art und Kultur zu verkörpern, gezwungen ist, sich mit den Zurichtungen und Ausgrenzungen, die eine solche nationale Identifikation auch bedeutet, auseinanderzusetzen, ist eine, die das Exil den Schriftsteller gelehrt hat. Der Blick aus der erzwungenen, zunehmend aber auch angenommenen Distanz lässt die komplexen Einflüsse und Prägungen, die ihn an das Land binden, das ihm und tausenden anderen Zugehörigkeit abspricht, erkennbar werden.

 

Die Erfahrung des Exils geht nicht nur mit dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung einher, der Erinnerung an das Herkommen, die verlorene Heimat, persönliche und kulturelle Bindungen. Sie veranlasst auch zu einem umfassenden Prozess der Selbsterkundung. Literaten im Exil sehen sich häufig mit der Notwendigkeit konfrontiert, als „public intellectuals“ politisch Stellung zu nehmen, das Wort als Waffe gegen den Faschismus oder gegen andere Regime, die ihnen ein Leben im Land ihrer Herkunft unmöglich machen, einzusetzen. Anders als politische Widerstandskämpfer sind sie aber nicht gleichermaßen darauf angewiesen, auf politische Gegebenheiten und Möglichkeiten Bezug zu nehmen, etwa in der Vorbereitung oder Beteiligung an einer Exilregierung, auch wenn es vielfach Überschneidungen gibt, wie etwa die relativ große Zahl von Exilautoren zeigt, die nach 1945 beim Aufbau der DDR ihr antifaschistisches Engagement einbrachten und zentrale (kultur-)politische Ämter besetzten.

 

Dabei hinterlässt die Notwendigkeit, sich mit den politischen Grenzen und Hürden sowie den Möglichkeiten ihrer Überwindung zu beschäftigen, auch in der Literatur vielfach Spuren. Wenn Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ beklagt, dass Schriftsteller im Exil mehr amtliche Verordnungen als geistige Bücher läsen und man untereinander mehr über „Affidavits und Permits“ als über die Gedichte Charles Baudelaires spreche, beschwört er nostalgisch eine Zeit, in der Reisen und intellektuelle Grenzüberschreitungen nicht durch Grenzkontrollen eingeschränkt waren, in der Schriftsteller sich auf kulturelle Begegnungen und Beschäftigungen konzentrieren konnte. Dass sich dies durch den Zwang, ins Exil zu gehen, ändert, hat aber nicht nur Lamentationen hervorgerufen, sondern auch literarische Texte geprägt, in denen Fragen der Zugehörigkeit zwischen politischem Bekenntnis und kultureller Identifizierung neu verhandelt werden.

 

In vielen Romanen, Theaterstücken oder Gedichten, die das Exil reflektieren, spielen tatsächlich Grenzbeamte und Passgesetze eine zentrale Rolle. Identitätspapiere, amtliche Bescheinigungen und Transitvisa werden, etwa in Anna Seghers‘ „Transit“, aber auch in Texten von Franz Werfel, Hans Natonek, Hans Sahl, Carl Zuckmayer oder Erich Maria Remarque geradezu zu Akteuren, die das Leben völlig neu ausrichten, da das Überleben von ihnen abhängt. Ersatzweise oder zusätzlich gewährte Staatsbürgerschaften anderer Länder, aber auch vertauschte oder gefälschte Pässe ermöglichen vielen Exilanten, tödliche Grenzregime zu umgehen. Die Geschichte von Lisa Fittko, die berühmten und weniger bekannten Exilanten den Fluchtweg über die Pyrenäen wies, ist voller Beschreibungen solcher Papierbeschaffungen am Rande oder jenseits einer Legalität, die angesichts von Verfolgung und Vertreibung ihrerseits fragwürdig geworden ist.

Doerte Bischoff
Doerte Bischoff ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg und leitet dort die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur.
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