Doerte Bischoff - 27. Mai 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Exilkultur

Globalisierung der Literatur


Literarische Reflexionen von Exil und Migration helfen, Zugehörigkeit neuzudenken

Als Thomas Mann 1936 erfährt, dass ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn aberkannt worden ist – eine unmittelbare Reaktion auf den vorausgehenden Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft durch die nationalsozialistischen Behörden – reagiert er prompt: An den verantwortlichen Dekan schreibt er, dass diejenigen, die sich erdreisteten, „mir mein Deutschtum abzusprechen“, nur ihre eigene Lächerlichkeit offenbarten. „Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.“ Thomas Mann, Literaturnobelpreisträger und Instanz der nationalen Kultur, tritt hier aus dem Schweizer Exil heraus als Repräsentant eines Deutschlands auf, das mit dem der Nationalsozialisten nichts zu tun hat. Deren Anspruch, das deutsche Volk, die deutsche Geschichte und Kultur zu vertreten, weist er in der Überzeugung zurück, dass es sich dabei um eine dreiste Lüge handelt, mit der die Vergewaltigung und Usurpation, als die das Geschehen der Machtergreifung eigentlich beschrieben werden müsse, lediglich verdeckt werde.

 

Spätestens 1945, im Angesicht des Zusammenbruchs, an dem das Ausmaß der Katastrophe, in die imperialer Nationalismus und Rassenideologie schließlich geführt haben, deutlich wird, sieht Mann die Dinge anders. Das wahre und das falsche Deutschland lassen sich nicht säuberlich trennen, weder im Innern noch im Exil. Serenus Zeitblom, der Chronist, der in Manns in dieser Zeit entstehendem Roman „Doktor Faustus“ als eine Art innerer Emigrant die politischen Geschehnisse aus nächster Nähe beobachtet und schulmeisterlich beflissen aufzeichnet, ist viel zu sehr in sie verstrickt, um einfach unbeteiligt und unschuldig zu sein. Gleichzeitig lässt sich die Position des Exilanten, der wie Mann auf der anderen Seite des Atlantik, im kalifornischen Exil, über die Bedingungen nachdenkt, die den Faschismus und seine Exzesse, Vertreibung und Vernichtung, möglich gemacht haben, nicht mehr ohne Weiteres als eine des „anderen Deutschlands“ verstehen. Die Einsicht, dass, wer behauptet, Deutscher zu sein und deutsche Art und Kultur zu verkörpern, gezwungen ist, sich mit den Zurichtungen und Ausgrenzungen, die eine solche nationale Identifikation auch bedeutet, auseinanderzusetzen, ist eine, die das Exil den Schriftsteller gelehrt hat. Der Blick aus der erzwungenen, zunehmend aber auch angenommenen Distanz lässt die komplexen Einflüsse und Prägungen, die ihn an das Land binden, das ihm und tausenden anderen Zugehörigkeit abspricht, erkennbar werden.

 

Die Erfahrung des Exils geht nicht nur mit dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung einher, der Erinnerung an das Herkommen, die verlorene Heimat, persönliche und kulturelle Bindungen. Sie veranlasst auch zu einem umfassenden Prozess der Selbsterkundung. Literaten im Exil sehen sich häufig mit der Notwendigkeit konfrontiert, als „public intellectuals“ politisch Stellung zu nehmen, das Wort als Waffe gegen den Faschismus oder gegen andere Regime, die ihnen ein Leben im Land ihrer Herkunft unmöglich machen, einzusetzen. Anders als politische Widerstandskämpfer sind sie aber nicht gleichermaßen darauf angewiesen, auf politische Gegebenheiten und Möglichkeiten Bezug zu nehmen, etwa in der Vorbereitung oder Beteiligung an einer Exilregierung, auch wenn es vielfach Überschneidungen gibt, wie etwa die relativ große Zahl von Exilautoren zeigt, die nach 1945 beim Aufbau der DDR ihr antifaschistisches Engagement einbrachten und zentrale (kultur-)politische Ämter besetzten.

 

Dabei hinterlässt die Notwendigkeit, sich mit den politischen Grenzen und Hürden sowie den Möglichkeiten ihrer Überwindung zu beschäftigen, auch in der Literatur vielfach Spuren. Wenn Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ beklagt, dass Schriftsteller im Exil mehr amtliche Verordnungen als geistige Bücher läsen und man untereinander mehr über „Affidavits und Permits“ als über die Gedichte Charles Baudelaires spreche, beschwört er nostalgisch eine Zeit, in der Reisen und intellektuelle Grenzüberschreitungen nicht durch Grenzkontrollen eingeschränkt waren, in der Schriftsteller sich auf kulturelle Begegnungen und Beschäftigungen konzentrieren konnte. Dass sich dies durch den Zwang, ins Exil zu gehen, ändert, hat aber nicht nur Lamentationen hervorgerufen, sondern auch literarische Texte geprägt, in denen Fragen der Zugehörigkeit zwischen politischem Bekenntnis und kultureller Identifizierung neu verhandelt werden.

 

In vielen Romanen, Theaterstücken oder Gedichten, die das Exil reflektieren, spielen tatsächlich Grenzbeamte und Passgesetze eine zentrale Rolle. Identitätspapiere, amtliche Bescheinigungen und Transitvisa werden, etwa in Anna Seghers‘ „Transit“, aber auch in Texten von Franz Werfel, Hans Natonek, Hans Sahl, Carl Zuckmayer oder Erich Maria Remarque geradezu zu Akteuren, die das Leben völlig neu ausrichten, da das Überleben von ihnen abhängt. Ersatzweise oder zusätzlich gewährte Staatsbürgerschaften anderer Länder, aber auch vertauschte oder gefälschte Pässe ermöglichen vielen Exilanten, tödliche Grenzregime zu umgehen. Die Geschichte von Lisa Fittko, die berühmten und weniger bekannten Exilanten den Fluchtweg über die Pyrenäen wies, ist voller Beschreibungen solcher Papierbeschaffungen am Rande oder jenseits einer Legalität, die angesichts von Verfolgung und Vertreibung ihrerseits fragwürdig geworden ist.

Die Literatur des Exils malt solche Formen des Widerstands und der kreativen Subversion staatlicher Identifizierungspraktiken vielfach aus. Die imaginären Szenarien werden dabei mit grundsätzlichen Fragen nach der Bedeutung nationaler Zugehörigkeit, dem Platz und der Verantwortung der Kulturschaffenden und Alternativen zum nationalen Projekt verknüpft. Was viele am eigenen Leibe erleben, ist die Neubestimmung und vor allem die Entflechtung von staatlicher und kultureller Loyalität. Als Thomas Mann die Rede „Deutschland und die Deutschen“ hielt, war er bereits amerikanischer Staatsbürger, andere Autoren und Autorinnen des Exils nahmen in den Jahren vor und nach 1945 die englische, französische, brasilianische, mexikanische, neuseeländische, niederländische oder schweizerische Staatsbürgerschaft an, die viele bis an ihr Lebensende behielten. Insgesamt kehrten nur etwa fünf Prozent der Exilierten später in ihre Herkunftsländer zurück. Manche, wie Thomas Mann, Alfred Döblin, Carl Zuckmayer oder Wolfgang Hildesheimer, entschieden sich nach ihrer Rückkehr nach Europa ausdrücklich für Wohnorte außerhalb Deutschlands.

 

Das historische Exil aus den von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten erscheint in der Rückschau als markanter Impuls zu einer Globalisierung der Literatur. Die Vervielfältigung und Dezentralisierung der Lebensorte derjenigen, die zur deutschsprachigen Literatur beitrugen, die Erfahrung, in einer fremden Sprachumgebung weiterhin deutsch zu schreiben, aber auch intensiv auf mehrsprachige Verhandlungen und Übersetzungen – oft schon die Erstpublikation eigener Texte betreffend – angewiesen zu sein, haben die Vorstellungen von den Quellen, Zuständigkeiten und Wirkmöglichkeiten von Literatur grundlegend verändert. Heute wird angesichts des bedeutenden Anteils, den Autorinnen und Autoren an der deutschsprachigen Literatur haben, deren erste Sprache nicht Deutsch ist, die andere Sprachen gleichermaßen beherrschen, in denen sie manchmal auch publizieren, und die Erfahrungen von Exil und Migration in ihre Texte einbringen, fragwürdig, ob sich Literatur überhaupt noch sinnvoll in Containern wie „Nationalliteratur“ und „Nationalphilologie“ unterbringen lässt.

 

Die seit 1933 entstehende Exilliteratur wirft bereits ganz ähnliche Fragen auf. Klaus Manns und Georges-Arthur Goldschmidts Autobiografien wurden von ihren Autoren in zwei unterschiedlichen Sprachen, jeweils zuerst in der Sprache des Asyllandes, geschrieben. Die Selbstübersetzung offenbart nicht nur eine große Vertrautheit der Autoren mit beiden Sprachen, sondern lässt das sprachlich erkundete und konstruierte Selbst darüber hinaus an der Schwelle, im Zwischenraum zwischen Sprachen, Ländern und Kulturen, erscheinen, zumal Unterschiede in den Texten erkennbar sind. Peter Weiss, Robert Neumann, Roberto Schopflocher und Ernesto Kroch wechseln zeitweilig die Sprache, publizieren auf Schwedisch, Englisch bzw. Spanisch und sind auf verschiedenen Ebenen als Kulturübersetzer aktiv.

 

Werner Lansburgh gelingt es, sich aus seinem Exilland und späteren Lebensmittelpunkt Schweden heraus wieder in die deutschsprachige Literatur einzuschreiben, indem er mit „Dear Doosie“ einen höchst erfolgreichen Englisch-Lernroman publiziert, der nicht nur unterhaltsam zwischen den Sprachen hin- und herwechselt und dabei auf Fallstricke und Grenzen der Übersetzung hinweist, sondern diese Kompetenz auch sehr deutlich mit der Exilerfahrung verknüpft: „I had better tell you where I got my English from. – Answer in two words: from Hitler.“ Trotz der den Text bestimmenden Leichtigkeit sind Erinnerungen an den Ausschluss deutscher Juden und die Zumutungen des Exils durchaus in den Text eingeflochten. Auch Mascha Kalékos bereits in den 1940er Jahren in New York entstandenen Gedichte und Prosatexte gewinnen aus Sprachmischungen und zum Teil lautgerechter, Rechtschreibregeln konsequent ignorierenden Übersetzungen, wie „Forrenlengvitsch“ und „Apper Broddweh“, eine eigene Ästhetik des Komischen, die zugleich jedoch den tragischen Kontext der durch das Exil verlorenen Sprachheimat aufzeichnet.

 

Bei Kurt Lehmann werden mehrsprachige Passagen, die das Deutsche mit niederländischen Einsprengseln mischen, mit Beschreibungen der Schwierigkeiten verbunden, sich im Exilland zurechtzufinden und neu zu entwerfen. Lehmann, der im Exil aus Gründen der Camouflage den Künstlernamen Konrad Merz annahm – offenbar in Anlehnung an Schwitters’ Avantgarde-Kunstprojekt –, gelingt in seinem Exil-Roman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ selbst ein Schreibexperiment im Horizont avantgardistischer Verfahren. So wird die Erfahrung des Herausfallens aus vertrauten Ordnungen und Sinnzusammenhängen hier auch als Herausforderung in Bezug auf die Versprachlichung des Exils und die es bestimmenden Verluste, Brüche und Heterogenitäten gestaltet. Herta Müller nimmt in ihrer Erzählung „Reisende auf einem Bein“, die unmittelbar nach ihrer Ausreise aus dem Rumänien Ceauceşcus entstand – in einer Zeit, in der sie sich selbst als Exilantin begriff – deutlich auf Konrad Merz‘ historischen Exilroman Bezug, in dem die Frage gestellt wird, ob man auf einem Bein, mit einem schmerzlichen Verlust mithin, leben könne. Indem dieser Verlust in dem späteren Text erinnert wird, bleibt er jedoch Teil eines Zusammenhangs der (Exil-)Literatur, die Ausgegrenztes und vom Vergessen Bedrohtes birgt.

 

Viele Exiltexte der 1930er und 1940er Jahre nehmen ihrerseits auf andere Exile und deren Literarisierungen Bezug, sehr prominent ist der Bezug zu Heinrich Heine, aber auch Ovid und Dante oder das russische Exil werden immer wieder aufgerufen. Dadurch entstehen Bezüge zwischen Exilliteraturen verschiedener Sprachen, Zeiten und Kulturen, die über die jeweilige politische oder biografische Situation hinausweisen. Solche transhistorischen und transnationalen Vernetzungen sind auch in deutschsprachigen Exiltexten der Gegenwart, etwa bei SAID, Adel Karasholi oder Abbas Khider, vielfach erkennbar. Khiders letztes Buch „Deutsch für alle“, eine humorvolle Auseinandersetzung mit den Tücken der deutschen Sprache aus der Perspektive eines Exilanten, ist ein Gedicht Mascha Kalékos vorangestellt. Frühere Romane von ihm, „Der falsche Inder“ oder „Ohrfeige“ stehen in Struktur und Motivik in großer Nähe zu Anna Seghers „Transit“ oder anderen Pass- und Behördengeschichten des historischen Exils. Immer wieder bezieht sich Khider auf Gedichte der Exilantin Hilde Domin, 2013 erhielt er den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil, eine Institution, die den Begriff Exilliteratur zeitlich und räumlich entgrenzt. Auch die virtuelle Ausstellungsplattform „Künste im Exil“ und das in Berlin nun geplante Museum des Exils legen einen Akzent auf die Vernetzungen zwischen den Zeiten und unterschiedlichen Richtungen und Räumen des Exils. Exilliteratur muss und kann nicht eindeutig eingegrenzt und verortet werden: Gerade darin liegt ihre Aktualität für heutige Debatten über Zugehörigkeit, kulturelle Identität und (trans-)nationales Erinnern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.


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