Für ein gleichberechtigtes und freies Leben

Kultur als Verteidigerin der LGBTQIA+-Rechte in Nordafrika

Jeem: Eine Webseite, um das ganze Leben zu erzählen

 

Sichtbarkeit, wie durch die Beteiligung bekannter Kunstschaffender bei Mawjoudin, wird auch über die öffentliche Erzählung von Lebenserfahrungen und Alltagsgeschichten von LGBTQIA+-Personen geschaffen. Dies ermöglicht die Plattform Jeem, eine Initiative des Goethe-Instituts, die sich vor allem an arabischsprachige Menschen richtet und Beiträge über Gender und Sexualität veröffentlicht.

 

Der Diskurs unterscheidet sich in seiner Differenziertheit sehr von jenem, den man in den Massenmedien findet – anstatt aktueller Nachrichten oder üblicher Themen werden auf der Webseite allgemein tabuisierte gesellschaftliche Fragen direkt von den Betroffenen beleuchtet.
Dalia Othman ist Projektleiterin der Webseite und hat diese mitinitiiert. Sie erklärt, dass die Seite unter anderem eine „Safe Space“-Funktion hat: „Wir wollten einen sicheren Ort schaffen, damit die LGBTQIA+-Community frei über ihre Erfahrungen sprechen kann. Es ist wichtig, dass diese Geschichten direkt von den Personen mit ihren eigenen Stimmen erzählt werden.“

 

Auch Dalia Othman betont, wie wichtig es ist, Kunst und Kultur für die eigenen Belange einzusetzen: „Insbesondere die Popkultur sollte genutzt werden: die Filme, die Musik, das Theater. All dies ermöglicht, die verschiedenen Communities in den Vordergrund zu stellen. Kultur schafft eine andere Herangehensweise an die Problematiken, eine menschliche Herangehensweise.“ Aber der Kampf kann nicht bei dieser Annäherung aufhören, erklärt sie: „Wir beginnen den Dialog auf menschliche Art und Weise. Aber das ist nur eine Art, das zu tun. Die politische Herangehensweise kann nicht außer Acht gelassen werden, ebenso wenig wie der legislative Kampf.“

 

Staatliche Unterdrückung und sozialer Druck in Nordafrika

 

„Es scheint deutlich, dass die Situation in den verschiedenen Ländern Nordafrikas nicht einfach ist. Es findet Unterdrückung statt, die z. B. von der Gesellschaft oder der Familie kommt“, sagt Dalia Othman. Eine Unterdrückung gegen die sich Betty Lachgar auch in Marokko einsetzt. Die patriarchale Kultur war für sie allzu präsent. „Diese Mentalität nachhaltig zu wandeln, stellt in Marokko eine wichtige Herausforderung dar“, erklärt die Psychologin. Denn um die Gesetze, die Homosexualität bestrafen, zu verändern, muss die öffentliche Meinung Stellung beziehen.
Im Jahr 2018 hat die Organisation Human Rights Watch einen Bericht über die LGBTQIA+-Rechte in der Region des Nahen Ostens und Nordafrika veröffentlicht. Es wurde von staatlicher Unterdrückung und sozialem Druck berichtet.

 

In Marokko hatte im April 2019 eine Outing-Kampagne folgenschwere Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen, deren sexuelle Orientierung gegen ihren Willen öffentlich gemacht wurde. In Libyen wird Homosexualität mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, und es ist unmöglich, sich dort dagegen zu wehren.

 

In Algerien wird Homosexualität mit ein bis zwei Jahren Gefängnis bestraft, und die Menschenrechtsverteidigenden können sich nicht offen in Vereinigungen organisieren. Auch in Ägypten wird Homosexualität von den Behörden stark unterdrückt und auf sozialer Ebene in hohem Maße stigmatisiert.

 

In der Region macht Tunesien den Eindruck eines Musterschülers. Obwohl erst vor einigen Wochen zwei homosexuelle Männer zu Haftstrafen verurteilt wurden, hat sich die Situation im Land allgemein bis heute erheblich verbessert, stellt Ali Bousselmi fest. Er unterstreicht zudem, dass „Tunesien seit 2011 sehr auf sein internationales Image achtet“.

 

Der Wunsch, bestimmte Standards zu erreichen, drängt das Land dazu, für mehr Gleichberechtigung zu sorgen. So wurden zwischen 2011 und 2019 verschiedene wichtige Organisationen gegründet, und auch viele LGBTQIA+-Personen aus den Nachbarländern wandern nach Tunesien aus, da es hier bereits eine größere Community gibt.

 

Die Herausforderungen

 

Die Situation unterscheidet sich von Land zu Land, aber die Ziele bleiben dieselben: allen Menschen zu ermöglichen, gleichberechtigt und frei zu leben und die Gesetze abzuschaffen, die Homosexualität in den verschiedenen Ländern kriminalisieren.

 

Die regionale Solidarität ist für Ali Bousselmi nichtsdestotrotz sehr wichtig, da sie ermöglicht, den Kampf für die Gleichberechtigung breiter sichtbar zu machen. „In manchen Ländern wird bereits aktiv für die Abschaffung der Kriminalisierung von Homosexualität gekämpft, in anderen ist es immer noch unvorstellbar, überhaupt offiziell als Organisation, die sich für die Rechte der LGBTQIA+-Gemeinschaft einsetzt, anerkannt zu werden“, schließt Ali. Er erklärt, dass ein reger Austausch in der Region stattfindet und dass die effektivste Zusammenarbeit über die Kultur passiert, da sie die sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen überwinden kann.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Sana Sbouai
Sana Sbouai ist Journalistin. Sie berichtet über den demokratischen Wandel in Tunesien mit Fokus auf soziale Themen und Menschenrechte.
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