Kunst als Weggefährtin des Wandels

Überleben in Zeiten kultureller Entbehrung

Mir gefällt die Definition von Kunst, die besagt, dass Kunst Akt und ästhetischer Ausdruck unserer Gedanken und Gefühle sei, angetrieben von unseren Wünschen und Zielen, stets im Kontext des Ortes und dessen besonderer Gegebenheiten. Daraus folgt, dass Kunst Orte braucht, an denen sie sich frei ausdrücken kann, Orte der Akzeptanz und der Unterstützung.

 

Nehmen wir meine eigene Geschichte und meine Beziehung zur Kunst in einem Land wie dem Sudan. Einem Land der „Dritten Welt“, die sich mehrheitlich dadurch auszeichnet, dass ihre Regierungen und Gesellschaften die Kunst ständig auf die Anklagebank bringen. So wachsen Generationen heran, welche die Kunst als Mittel des Widerstands betrachten, als ein sich Auflehnen gegen den Staat und die Gesellschaft. Und in der Tat: Durch die Kunst, durch Wissensdurst, Neugierde und das Spiel mit dem Verbotenen sind wir einem gefährlichen System entkommen.

 

Die vorherrschende Kultur bestand aus oberflächlichen, naiven Erzeugnissen, die zu Integrität und Religiosität aufriefen. Im Radio und Fernsehen wurden Lieder verboten und die Sänger der Blasphemie bezichtigt oder als Kommunisten oder Atheisten verunglimpft. Infolgedessen wurden einige Filme und dramaturgische Arbeiten umgeschrieben, weil sie dem Regime missfielen. Damals, Mitte der 1990er Jahre, verbreiteten Radio und Fernsehen ihre vergifteten Botschaften und füllten unsere jungen Köpfe mit Hass gegenüber dem Leben und den Menschen. Lieder, Gesänge und Dramen wirkten wie Scheren, die uns auf das Zivilisierungsprojekt, das Projekt zur Islamisierung des Lebens und der Kunst, zuschneiden und persönliche Freiheiten beschneiden sollten. Mehrfach wurden das Theater und die Fakultät für Musik und Kunst wegen angeblichen Tabubruchs geschlossen. Statuen wurden als Götzen bezeichnet und zerschlagen, Bücher beschlagnahmt. Titel, denen Unsittlichkeit und schlechte Einflussnahme unterstellt wurde, durften gar nicht erst ins Land eingeführt werden.

 

Wie haben wir all das überstanden?

 

Ich weiß es nicht, doch die Erfahrung hat uns zusammengeschweißt. Einige überlebten, indem sie räumliche Distanz zwischen sich und den Herrschenden schufen, durch Reisen, Migration oder Asyl – wobei sehr viele Schriftstellerinnen und Künstler schlichtweg zur Ausreise gezwungen wurden. Wir überlebten auch, weil wir uns zum stillen Widerstand zusammenschlossen, stets darum bemüht, bei unserer Arbeit nicht aufzufliegen. Das war Anfang des Jahrtausends, während unserer ersten Semester an der Universität. Wir studierten Entwürfe und handgeschriebene, teilweise illustrierte Manuskripte und insgeheim kursierten darunter auch verbotene Gedichtbände und Bücher. Eingewickelt in Zeitungspapier, wanderten sie von Hand zu Hand, manchmal tricksten wir mit selbst gedruckten Umschlägen und falschen Adressen. Wenn wir einander seltene Kassetten ausliehen, geschah dies unter absoluter Geheimhaltung und mit einer Sorgfalt, als wären wir Drogendealer. Als kulturelle Zentren beschlagnahmt wurden und literarische Gesellschaften sowie andere Kultureinrichtungen schließen mussten, verlagerten sich die Diskussionsrunden ins Private. So saßen wir in verschlossenen Häusern und Räumen und sprachen über Literatur, Kritik und die Lage der Kultur.

 

Ein Hoffnungsschimmer in jener Zeit waren die ausländischen Kulturinstitute wie das Goethe-Institut, das Institut Français oder das British Council. Hier öffneten wir uns der Welt, besuchten Filmfestivals, nahmen an Jugendwettbewerben teil und versuchten zu retten, was zu retten war. Sie alle haben auf die eine oder andere Weise zu unserem Überleben beigetragen.

 

Letztendlich kann ich sagen, wir haben überlebt, weil wir die Kunst liebten. Unsere Nähe zu den Künsten, den Künstlerinnen und Schriftstellern ließ uns vom Pfad des Extremismus und der Gewalt abkommen und machte uns zu Widerstandskämpfern, die sich der hässlichen Realität, in der sie aufgewachsen waren, entgegenstellten. Die Kunst war die ständige Gefährtin auf unserem persönlichen Weg des Wandels zum Besseren. Sie war die Kraft, mit der wir den politischen Wandel und die Träume unserer Heimat schulterten, einer Heimat, deren Schönheit wir in unseren Herzen trugen. Sie war unsere Linse, durch die wir auf viele Dinge eine neue Perspektive gewannen. Wir interpretierten alles neu und verstanden das Ausmaß der Korruption und Sabotage, denen wir systematisch ausgesetzt waren, damit aus uns jene entstellten Wesen würden, die sie kreieren wollten. Als zwar kultivierte, aber nicht intellektuell gebildete Leute, sind viele von uns in die Falle getappt, die uns der ursprünglichen sudanesischen Identität beraubte und die Identität anderer Leute überstülpte.

 

Ich behaupte nicht, dass wir alle überlebt haben. Es gibt nach wie vor viele Männer und Frauen, junge und erwachsene, die meinen, das oben Geschilderte sei vernünftig und es sei die Kultur, die sich hätte anpassen müssen. Sie glauben, ein solches Regime würde sie davor bewahren zu sündigen und es könne eine reine Gesellschaft entstehen, ein Heiliger Staat, dessen Bürger ins Paradies eingehen. Die Geschlechtertrennung auf Hochzeitsfeiern, die normalerweise vor Mitternacht enden, verwandelte Khartum, eine Hauptstadt, deren pulsierendes Nachtleben einmal bis in die frühen Morgenstunden andauerte, in eine Hauptstadt, die früher einschläft als die Kinder, die in ihr leben.

Stella Gaitano
Stella Gaitano ist Pharmazeutin und mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie wuchs in Khartum auf, lebt aber seit der Gründung des Südsudan in Juba.
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