Für ein gleichberechtigtes und freies Leben

Kultur als Verteidigerin der LGBTQIA+-Rechte in Nordafrika

Kunst und Kultur waren immer schon Mittel zur Verfechtung von Menschenrechten. Seit den arabischen Revolutionen 2011 nutzt auch die LGBTQIA+-Gemeinschaft in dieser Region im Kampf für ihre Rechte verstärkt künstlerische Möglichkeiten: In Tunesien wurde ein queeres Filmfestival ins Leben gerufen, in Marokko setzt die Bewegung MALI auf verschiedenste Formen des künstlerischen Ausdrucks, und in der gesamten arabischsprachigen Region sowie darüber hinaus bietet die Webseite Jeem des Goethe-Instituts eine Plattform für kritischen Austausch über Gesellschaft und thematisiert Fragen hinsichtlich Gender, Sex und Sexualität.

 

Betty Lachgar erinnert sich gut an den 17. Mai 2012: Die damals erstmalig in Marokko veranstalteten Feierlichkeiten anlässlich des Internationalen Tags gegen Homophobie und Transphobie wurden etwas übereilt organisiert. Ein Jahr später jedoch hatte die Bewegung „Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles (MALI)“, zu Deutsch Alternative Bewegung für die individuellen Freiheiten, die Lachgar mitgegründet hat und deren Sprecherin sie ist, mehr Zeit, um diesen bedeutsamen Tag zu planen.

 

Als Ergebnis wurde in dem niederländischen Institut von Rabat eine Fotoausstellung über gleichgeschlechtliche Paare präsentiert, die ein in Marokko lebender belgischer Fotograf aufgenommen hat. Die Ausstellung erregte große Aufmerksamkeit, denn in Marokko werden „zügellose oder unnatürliche Handlungen mit einer Person des gleichen Geschlechts“ laut Artikel 489 des Strafgesetzbuchs mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren und einer Geldstrafe geahndet.

 

Kunst als persönlicher Ausdruck

 

Betty Lachgar ist Psychologin, ihre Spezialgebiete sind Kriminologie und Viktimologie. Sie erklärt, dass das künstlerische Schaffen für die Bewegung MALI nicht mehr wegzudenken sei: „Wir arbeiten mit Fotograf*innen, Grafiker*innen, wir machen Videos und so weiter. Dies sind Ausdrucksmittel, die alle interessieren und die es ermöglichen, die Botschaft allgemein zugänglich zu machen. Eine Botschaft, die über Musik, Liedtexte, Fotos und Filme transportiert wird – das berührt die Menschen.“

 

MALI wurde 2009 in Marokko als universalistische, feministische und laizistische Bewegung gegründet, die sich für die individuellen Freiheiten im Königreich einsetzt. Seit der Gründung veröffentlichen die Mitglieder der Bewegung zahlreiche Videos, die sich zwischen Kurzfilmen und Reportagen bewegen und deren Botschaft stets die Verteidigung von Gleichheit und Freiheit für alle ist. Diese Mission, die MALI verfolgt, beinhaltet auch die Verteidigung der Rechte der LGBTQIA+-Gemeinschaft.

 

Ein queeres Filmfestival in Tunesien

 

In Tunesien, wo Homosexualität immer noch mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft wird, wurde 2018 eine ebenfalls bedeutsame kulturelle Initiative ins Leben gerufen: das queere Filmfestival der Organisation Mawjoudin. Ali Bousselmi, Mitbegründer der seit 2014 offiziell eingetragenen Vereinigung Mawjoudin, was „Wir existieren“ bedeutet, erklärt, dass die Organisation darauf zielt, die Geschlechtergleichheit zu verteidigen. Und es gibt bereits Erfolgserlebnisse: 2018 wurden die Satzungen geändert und enthalten nun auch einen Hinweis auf die Geschlechtsidentität und die Sexualität.

 

„Seit der Gründung der Vereinigung träumten wir davon, ein Festival zu veranstalten. Wir haben sehr schnell gesehen, dass uns die Kunst anderen Ländern und Kontinenten näher bringt, dass wir gemeinsam für diese Rechte kämpfen können. So sprechen wir mit Tunesier*innen und vielen mehr: Wir bauen Brücken, wir drücken unsere Daseinsberechtigung aus“, erklärt der 30-Jährige.

 

Das jährliche Festival ist das erste queere Filmfestival in ganz Nordafrika und fand bereits zweimal statt. Die Filme, die einem jährlich wechselnden Schwerpunkt folgen, werden durch Performances, Diskussionen und Workshops ergänzt. Die Premiere vor zwei Jahren wurde noch zaghaft und mit hohen Sicherheitsvorkehrungen organisiert. Die zweite Ausgabe 2019 wurde von den Medien schon viel stärker propagiert, und die Veranstaltung gelangte vom Untergrund an die Öffentlichkeit. Das Festival richtete sich eindeutig gegen die staatliche Kriminalisierung von Homosexualität, dennoch haben die Behörden kein einziges Mal versucht, es zu verhindern.

 

Über den Ansatz des Festivals wird eines klar: „Durch künstlerisches Schaffen lösen wir uns von der gängigen Vorstellung der LGBTQIA+-Personen, dass diese Menschen nur Opfer seien, die marginalisiert werden und nichts dagegen tun können“, so Ali. Die Organisation Mawjoudin hat sich im Rahmen des Filmfestivals zahlreiche Kunstschaffende und bekannte Persönlichkeiten als Verbündete gesucht, um sich besser an eine große Öffentlichkeit wenden zu können und die Probleme, mit denen LGBTQIA+-Personen zu kämpfen haben, allgemein zu verbreiten. Die Kunstschaffenden können als wichtige gesellschaftliche Vermittelnde auftreten – momentan ist sogar die Idee eines Manifests ihrerseits im Gespräch. „Als wir unser Plädoyer zur Abschaffung von Artikel 230 des Strafgesetzes gestartet haben, der die Homosexualität in Tunesien verurteilt, wurden wir von Künstler*innen unterstützt, was uns zu einer größeren Sichtbarkeit in den Medien verholfen hat. Sogar in einem derartigen Maße, dass sich der Diskurs in Bezug auf diese Frage verändert hat. Ihr Engagement hat dazu geführt, dass wir viel schneller Fortschritte gemacht haben“, so Bousselmi.

Sana Sbouai
Sana Sbouai ist Journalistin. Sie berichtet über den demokratischen Wandel in Tunesien mit Fokus auf soziale Themen und Menschenrechte.
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