Auf dem Sprung

Digitalisierung und Film in Ruanda

Der kleine Raum im Haus an der Ecke ist bis zum Rand gefüllt. Die Luft stickig. Aus großen, schwarzen Lautsprechern dröhnen Gewehrsalven. Das Publikum schreit auf und zahlreiche Köpfe recken sich, um die nächste Szene des Actionfilms auf dem mittelgroßen Fernseher nicht zu verpassen. Mittendrin der elfjährige Philbert. Von den schnellen englischen Dialogen versteht er kaum etwas. Doch das ist egal – er ist im Kino. Etwas Besseres hätte er sich für diesen Samstagnachmittag nicht vorstellen können.
Dieses Erlebnis liegt fast 20 Jahre zurück. Heute ist Philbert Mbabazi einer der erfolgreichsten Filmemacher in Ruanda. Mit einem Lachen erinnert er sich an seine ersten Kinobesuche: „50 Ruandische Francs mussten wir bezahlen, um einen Film zu sehen. Das war damals für einen Jungen viel Geld.“ Es entspricht umgerechnet 5 Cent. Philbert wächst in der Hauptstadt Kigali auf, geht zur Schule und beginnt anschließend, Informationstechnik zu studieren. „Aber ich saß oft in den Vorlesungen in der letzten Reihe und habe heimlich Filme geschaut“, gesteht er. Filme aus Hollywood und Europa. Und er fragt sich: Was, wenn ich solche Filme machen könnte?

 

Ähnlich ging es Samuel Ishimwe, der nur ein Jahr jünger als Philbert Mbabazi ist. Die beiden sind Kinder der Generation, die nach dem Genozid gegen die Tutis von 1994 aufgewachsen ist. In einem Ruanda, das enormen Fortschritt erlebt und die Digitalisierung zu einer Priorität auf dem Weg in eine bessere Zukunft gemacht hat. Nun sind Samuel Ishimwe und Philbert Mbabazi für ein paar Tage zurück in ihrer Heimat. Sie sitzen auf der Veranda einer Bar in Kigali, während die späte Nachmittagssonne viele Hügel in ein warmes Licht hüllt. Philbert Mbabazi arbeitet derzeit an einem Spielfilm in Genf, der die Geschichte eines Studenten erzählt, der in politische Unruhen der kamerunischen Diaspora hineingezogen wird. Samuel Ishimwe schreibt in Paris an einem neuen Drehbuch über zwei besondere Lebensgeschichten in Ruanda, die sich parallel entwickeln. Bevor es nach Genf respektive Paris zurückgeht, fliegen die beiden Filmemacher noch zur Berlinale nach Deutschland. Sie sind für die „Berlinale Talents“ ausgewählt. Samuel hatte bereits 2018 mit seinem Kurzfilm „Imfura“ in Berlin einen silbernen Bären gewonnen.

 

Berlinale. Oberhausen. Rotterdam. Ruandas junger Filmbranche wurde in den vergangenen Jahren verstärkt internationale Aufmerksamkeit zuteil. „Im Vergleich zu Europa oder auch Westafrika ist Film in Ruanda noch eine relativ neue Kunstform“, sagt Philbert Mbabazi. „Das kreative Potenzial ist da. Aber von unseren technischen und finanziellen Möglichkeiten her haben wir noch einen weiten Weg vor uns.“ Doch die Selfmade-Filmemacher sehen, welche Chancen und Möglichkeiten ihnen die Digitalisierung eröffnet.

 

Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass die Welt der Bits und Bytes, das Zeitalter der Digitalisierung, weitreichenden Einfluss auf die Filmwirtschaft nimmt. In Afrika ist die Transformation aber um ein Vielfaches revolutionärer. Sie ermöglicht es Filmemachern des Kontinents aufzuschließen. „Die Digitalisierung hat für mich und meine Generation vor allem eins ermöglicht: Wer neugierig ist, kann durchstarten“, erklärt Samuel Ishimwe und macht das an einem Beispiel deutlich: „Für meinen zweiten Kurzfilm wollte ich selbst die Kamera in die Hand nehmen. Ich hatte mir eine digitale Kamera ausgeliehen, aber keine Ahnung, wie sie funktioniert. Also bin ich ins Internet, habe ein YouTube-Video nach dem anderen geschaut und so die technische Handhabung gelernt.“ 80 Prozent seines Wissens über Filmproduktion habe er sich über das Internet angeeignet, schätzt der 28-Jährige. „Die Digitalisierung hat einen Demokratisierungsprozess eingeleitet. Heute ist überall auf der Welt derselbe Zugang zu Informationen möglich.“ Sein Freund und Kollege Philbert Mbabazi geht sogar noch einen Schritt weiter. Der Nachteil, dass sein Heimatland bisher kaum Institutionen und Strukturen der Filmwirtschaft hatte, wende sich jetzt zum Vorteil: „Wir sind in der Vergangenheit nicht von einer bestimmten Filmschule, wie etwa der französischen, geprägt worden. Uns steht heute die Welt offen. Z. B. überholt gerade das koreanische Kino Frankreich und Deutschland und wir können uns von dort inspirieren lassen.“ „Nurturing“ nennt der 29-Jährige diese Chance, unbefangen Wissen aufzunehmen, Neuheiten zu entdecken und von anderen zu lernen.

Susanne Maria Krauss
Susanne Maria Krauss ist Journalistin und Filmemacherin. Seit 2016 lebt sie in Ruanda.
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