Zwei Welten in einem Land

Die Generation nach der Islamischen Revolution und der Westen

 

In Wirklichkeit übernehmen die Generationen der ersten und der zweiten Dekade nach der Revolution in überraschender Weise Normen und Werte des Westens. Je gebildeter und je besser sie situ­iert sind, umso stärker ist diese Tendenz, umso größer ist die Annährung. Das geschieht trotz der pausenlosen Pro­paganda der staatlichen Medien und aller Organe und Angehörigen des Herrschafts­systems gegen die westliche Kultur und Zivilisation.

 

In den vergangenen 38 Jahren haben die führenden Persönlichkeiten der Republik kaum je ein positi­ves Wort über die westliche Zivilisation und Kultur von sich gegeben. Im Gegenteil, sie haben alles getan und gesagt, um sie zu untergraben, zu verleumden und zu verdammen.

 

Das Ergebnis ist erstaunlich. Das Trommelfeuer der Verdammnis hat letztlich das Gegenteil be­wirkt. Die Generationen nach der Revolution sind gegenüber westlichen Trends, Werten und An­schauun­gen viel offener als ihre Eltern. Die herrschenden Politiker der Islamischen Republik möch­ten mei­ne Ansichten nicht akzeptieren und sie als unwahr abtun. Sie behaupten, die neuen Genera­tionen seien sehr gläubig, gesittet und der Republik treu ergeben. Der massive jährliche Braindrain von 150.000 bis 200.000 zum Großteil hochgebildeten jungen Menschen spricht gegen diese Einschät­zung.  Die zweite und dritte Generation nach der Revolution sind von dem ihnen verordneten Islam ent­täuscht. Sie suchen nach Ersatz. Für meine Generation war der Islam die Ant­wort. Die jungen Leute werden wegen ihrer Islam-Enttäuschung suchen, bis sie etwas Anderes gefunden haben. Die Führung der Islamischen Republik setzt weiter auf die Islamisierung des Landes und der Gesell­schaft in allen Lebensbereichen. Die Scharia soll für alles der entscheidende Leitfaden sein. Aber es ist längst eine gewisse Säkularisierung im Gange. Die langsame aber stetige Säkularisierung im Iran ge­schieht auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der Herrschaft sowie auf gesellschaftlicher Ebene, in den Fa­milien, unter Freunden, im ganz normalen Alltag.

 

Wer andere islamische Länder bereist und kennt, wird schnell feststellen, dass dort islamische Feiertage mit mehr Inbrunst begangenen werden und Moscheen besser gefüllt sind als in der Islamischen Republik. Ende Oktober 2016 versammelten sich inoffiziellen Zahlen zufolge mehrere 10.000 Menschen am Grab von Kyros dem Großen nahe der südiranischen Stadt Schiraz. Die Herrschaft war sehr überrascht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich derart viele Menschen trotz der massiven Kontrolle des Internets, trotz des dichtgespannten Überwachungssystems dort versammeln kön­nen. Sie kann keine ausländische Macht wie die Amerikaner oder die „Zionisten“ dafür verantwort­lich ma­chen. „Kyros, du bist unser Vater, du bist unsere Identität“, riefen die Menschen und auch: „Wir sind Arier, wir beten keine Araber an, hoch lebe der Iran“.

 

Die zweite und die dritte Generation nach der islamischen Revolution glauben nicht mehr an die Po­litik der Führung. Wenn die Herrschenden hier vom libanesischen Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah sprechen, dann fragen viele junge Leute: „Wer ist das überhaupt?“. Die Herrscher reden von Hamas und die Jungen sagen: „Hamas, was bitteschön ist das?“. Die Füh­rung sagt, die USA sind unser Feind. Die Jungen ant­wor­ten immer offener: „Nein, wir glauben nicht, dass es so ist“.

 

Nur die Zeit kann uns eine glaub­wür­di­ge Antwort darauf geben, wie die Diskrepanz und der Konflikt zwischen dem Herrschaftsapparat und den Bürgern sowie zwischen Ideologie und Reali­tät gelöst wer­den können.

 

Dieser Text ist zuerst in der Politik & Kultur 1/17 erschienen.

Sadegh Zibakalam
Sadegh Zibakalam ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Teheran und einer der führenden Intellektuellen des Landes
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