Sadegh Zibakalam - 22. Dezember 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur im Iran

Zwei Welten in einem Land


Die Generation nach der Islamischen Revolution und der Westen

Wenn ein ausländischer Beo­bachter mit begrenzter Vorstellung über den Iran an bestimmten Tagen das Land bereisen würde, dann könnte er den Eindruck gewinnen, der Grund für die Revolution von 1979 und die Ablehnung des Schah-Regimes sei der Hass der Iraner auf die westliche Kultur und Zivilisation gewesen.

 

Nehmen wir als Reisetag mal den 4. November an. Jedes Jahr werden an diesem Tag die Besetzung der US-Botschaft und der Beginn der 444 Tage währenden Geiselnahme von 55 Diplomaten durch radi­kal-islamische Studenten gefeiert. Während einer Reise im Februar kann man die zehntägigen Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Revolution erleben. Der unvoreingenommene Besucher bekommt den Eindruck, als ob die Iraner von Anfang an die Absicht gehabt hätten, den Westen mit den USA als dessen Führungsmacht zu bekämpfen. Die Demonstranten, so lautet die ständig wiederholte Botschaft, wollten angeblich den Schah stürzen, weil er ein diensteifriger Büttel des Westens war, der dem iranischen Volk Kultur und Zivilisation des Westens aufoktroyieren wollte. Aber weil die Iraner Muslime waren und den Islam höher schätzten als die Werte des Westens, hätten sie sich erhoben, dem Schah die Macht entrissen und stattdessen die eigene islamische Kultur und Ideologie durch­­ge­setzt. Der prowestliche Lakai Mohammed Reza Schah wurde in die Flucht geschlagen und dem iranischen Volk wurde durch die Gründung der Islamischen Republik eine lichte Zukunft er­mög­licht. So lautet die offizielle Version der Islamischen Republik über Ursachen und Umsetzung der Revolution von 1979.

 

Diese offizielle Haltung ist das Fundament dafür, dass alle staatlichen Medien, die religiösen Prediger, die Kommandeure der Streitkräfte, große Teile der Universitätsgelehrten, die meisten Politiker und dem Regime nahestehenden Personen und Organe immer wieder geharnischte Parolen gegen den Westen und insbesondere gegen die USA von sich geben. Sie sind überzeugt davon, es gebe eine antagonistische Ansichtsweise zwischen dem islamischen Iran mit seiner Weltsicht einerseits und dem Westen andererseits. Dieser Widerspruch wird gerne auf zwei Ebenen dargestellt: Einer Kulturebene basierend auf Philosophie und Zivilisation sowie einer politischen Ebene.

 

Um auf die vermeintlich tiefe Feindschaft und den unüberbrückbaren Anta­gonismus zum Westen mit den USA an der Spitze hinzuweisen, wird eine lange Liste von Verschwörungen der Amerikaner gegen die Islamische Republik seit ihrer Geburtsstunde präsentiert.

 

Es beginnt mit der ersten provisorischen Regierung von Mehdi Bazargan. Offiziell heißt es, die Ameri­kaner hätten ihre Agenten auf den wichtigen Posten in der von „Liberalen“ geführten Regierung plat­ziert, um die Revolution zum Entgleisen zu bringen. Diese Agenten sollten angeblich die antiwestliche Haltung der Revolutionäre hintertreiben. Die Verschwörung sei aber vereitelt worden. Danach hätten die Amerikaner zu einem anderen Mittel gegriffen. Die eth­ni­schen Minderheiten des Vielvölkerstaats Iran wurden aufgewiegelt. Kurden, Turkmenen, Belutschen und Araber sollten gegen die Zentralregierung aufgebracht werden, um einen Bürgerkrieg zu entfa­chen. Aber auch diese Ver­schwö­rung sei von den Revolutionären vereitelt worden.

 

Die nächste Verschwörung bestand der offiziellen Lesart zufolge darin, Mordanschläge auf die füh­ren­den Köpfe der Revolution durch die Volks-Mudschaheddin verüben zu lassen. Auch dieses groß­angelegte Komplott konnte durchkreuzt werden.

 

Die Liste der Verschwörungen umfasst noch Putschversuche des Militärs vorwiegend unter Be­tei­li­gung der Luftwaffe. Sie seien allesamt im Keim erstickt worden. Die Aufnahme des krebskranken Schahs in den USA wurde als feindlicher Akt ausgelegt und weitere Verschwörungen seien schließlich von den revolutionären Studenten und durch die Besetzung der US-Botschaft verhindert worden. Dann griffen die USA zu anderen Mitteln: Sie hetzten ihren Handlanger im Irak, Saddam Hussein, zu einer Militärinvasion gegen den Iran auf mit dem Ziel, Teile des Landes zu besetzen, das Regime zu stürzen und den Iran deutlich zu schwächen. Doch trotz der massiven militärischen Unterstützung des Iraks durch die USA und ihre Verbündeten in Europa sowie in der arabischen Welt konnte Saddam Hus­sein seine Ziele nicht erreichen. Im Gegenteil: Die revolutionäre Herrschaft des Irans war nach acht Jah­ren Krieg mit hunderttausenden Toten und großer Zerstörung erheblich gestärkt und geschlos­se­ner als vor dem Überfall durch Saddam Husseins Armee.

 

Die Weltsicht der Führer der Islamischen Republik ist geprägt durch den Kampf gegen den Westen, ge­führt von den USA. Das Ziel der Revolution – so die nach-revolutionäre Deutung – bestand im Kampf gegen die USA und in der erklärten Gegnerschaft des revolutionären Islams mit dem Westen. Der Anti-Amerikanismus wurde faktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben. Diese Ideologie hilft dem Regime bis heute, gegen die westliche Kultur zu bestehen. Würde die westliche Kultur adaptiert, dann käme das dem Zusammenbruch der eigenen Ideologie gleich. Seit 38 Jahren bemüht sich die Islamische Republik darum, den Konflikt mit dem Westen als unlösbar und unver­meidbar darzustel­len, als ein Kampf von gläubigen Muslimen, die sich der Unterjochung durch den We­sten entgegen­stem­men. Das wird als der eigentliche Grund für die andauernde Auseinandersetzung mit den »Häreti­kern« im Westen angeführt. Die Realität in der iranischen Gesellschaft, oder wie wir sa­gen „un­ter der Haut der Stadt“, sieht aber anders aus. Sie entspricht nicht dem Bild, das die Herr­schenden der Islami­schen Republik der Welt gerne präsentieren.

 

In Wirklichkeit übernehmen die Generationen der ersten und der zweiten Dekade nach der Revolution in überraschender Weise Normen und Werte des Westens. Je gebildeter und je besser sie situ­iert sind, umso stärker ist diese Tendenz, umso größer ist die Annährung. Das geschieht trotz der pausenlosen Pro­paganda der staatlichen Medien und aller Organe und Angehörigen des Herrschafts­systems gegen die westliche Kultur und Zivilisation.

 

In den vergangenen 38 Jahren haben die führenden Persönlichkeiten der Republik kaum je ein positi­ves Wort über die westliche Zivilisation und Kultur von sich gegeben. Im Gegenteil, sie haben alles getan und gesagt, um sie zu untergraben, zu verleumden und zu verdammen.

 

Das Ergebnis ist erstaunlich. Das Trommelfeuer der Verdammnis hat letztlich das Gegenteil be­wirkt. Die Generationen nach der Revolution sind gegenüber westlichen Trends, Werten und An­schauun­gen viel offener als ihre Eltern. Die herrschenden Politiker der Islamischen Republik möch­ten mei­ne Ansichten nicht akzeptieren und sie als unwahr abtun. Sie behaupten, die neuen Genera­tionen seien sehr gläubig, gesittet und der Republik treu ergeben. Der massive jährliche Braindrain von 150.000 bis 200.000 zum Großteil hochgebildeten jungen Menschen spricht gegen diese Einschät­zung.  Die zweite und dritte Generation nach der Revolution sind von dem ihnen verordneten Islam ent­täuscht. Sie suchen nach Ersatz. Für meine Generation war der Islam die Ant­wort. Die jungen Leute werden wegen ihrer Islam-Enttäuschung suchen, bis sie etwas Anderes gefunden haben. Die Führung der Islamischen Republik setzt weiter auf die Islamisierung des Landes und der Gesell­schaft in allen Lebensbereichen. Die Scharia soll für alles der entscheidende Leitfaden sein. Aber es ist längst eine gewisse Säkularisierung im Gange. Die langsame aber stetige Säkularisierung im Iran ge­schieht auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der Herrschaft sowie auf gesellschaftlicher Ebene, in den Fa­milien, unter Freunden, im ganz normalen Alltag.

 

Wer andere islamische Länder bereist und kennt, wird schnell feststellen, dass dort islamische Feiertage mit mehr Inbrunst begangenen werden und Moscheen besser gefüllt sind als in der Islamischen Republik. Ende Oktober 2016 versammelten sich inoffiziellen Zahlen zufolge mehrere 10.000 Menschen am Grab von Kyros dem Großen nahe der südiranischen Stadt Schiraz. Die Herrschaft war sehr überrascht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich derart viele Menschen trotz der massiven Kontrolle des Internets, trotz des dichtgespannten Überwachungssystems dort versammeln kön­nen. Sie kann keine ausländische Macht wie die Amerikaner oder die „Zionisten“ dafür verantwort­lich ma­chen. „Kyros, du bist unser Vater, du bist unsere Identität“, riefen die Menschen und auch: „Wir sind Arier, wir beten keine Araber an, hoch lebe der Iran“.

 

Die zweite und die dritte Generation nach der islamischen Revolution glauben nicht mehr an die Po­litik der Führung. Wenn die Herrschenden hier vom libanesischen Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah sprechen, dann fragen viele junge Leute: „Wer ist das überhaupt?“. Die Herrscher reden von Hamas und die Jungen sagen: „Hamas, was bitteschön ist das?“. Die Füh­rung sagt, die USA sind unser Feind. Die Jungen ant­wor­ten immer offener: „Nein, wir glauben nicht, dass es so ist“.

 

Nur die Zeit kann uns eine glaub­wür­di­ge Antwort darauf geben, wie die Diskrepanz und der Konflikt zwischen dem Herrschaftsapparat und den Bürgern sowie zwischen Ideologie und Reali­tät gelöst wer­den können.

 

Dieser Text ist zuerst in der Politik & Kultur 1/17 erschienen.


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