Die neue Brücke Teherans

Pol-e-Tabiat – Architektur, die Menschen zusammenbringt

Dieser Gedanke stammt von dem japanischen Architekten Fumihiko Maki, den Araghian in ihrem Ted-Talk im April 2016 zitierte. Dessen Verständnis von der Aufgabe eines Architekten ist es, Räume zu schaffen, die auch menschliche Bedürfnisse erfüllen, die nur im Unterbewusstsein existieren. Wie viele Menschen würden z. B. eine 270 Meter lange Fußgängerbrücke, die 30 Meter über einer Autobahn schwebt, von vorneherein als positiv bewerten und für eine Umsetzung plädieren? Wahrscheinlich nicht viele. Trotzdem wird der Raum, der 2014, nach vier Jahren Bauzeit, fertig gestellt wurde, heute gut angenommen und ist als Ausflugsziel sehr beliebt.

 

Fünf Grundprinzipien wurden für die konkrete Planung festgelegt. Sie zeigen klare architektonische Konzepte, die simpel erscheinen, aber im Zusammenspiel eine komplexe Struktur mit den verschiedensten Nutzungsmöglichkeiten ergeben und einen Raum schaffen, der sehr flexibel nutzbar und für jeden zugänglich ist. Die neue Brücke sollte ein Ort des Verweilens sein, eine Fortsetzung des Parks ohne Alltagsstress und schnelles Vorübergehen. Sie sollte nicht nur zwei Punkte verknüpfen, sondern sie in die Situation integrieren. Heute öffnet sie sich an einer Seite zum Park, während am anderen Ende mehrere Wege entstehen, die dem Spaziergänger Alternativen anbieten und ihn jeden Besuch auf andere Weise wahrnehmen lassen. Eine weitere, sehr wichtige Entscheidung war die organische, leicht geschwungene Grundform. Die Brücke ist damit nicht die direkteste Verbindung zwischen den Parks. Vielmehr formt sie einen Weg, den jeder Besucher für sich entdecken kann – ohne das Ziel bereits von Anfang an zu sehen. Diese Form ergab sich unter anderem aus dem Vorsatz, nur einen minimalen Eingriff in der existierenden Umgebung vorzunehmen. Mit wenigen und sinnvoll platzierten Stützen sollte so viel Natur wie möglich erhalten werden. Wie in einem traditionellen englischen Garten, birgt der Weg Überraschungsmomente und immer wieder neue Perspektiven. Auf insgesamt drei Ebenen – einer Aufenthalts-, einer Transit- und einer Ausblicksebene, die im Gegensatz zu den anderen Bereichen nicht über die gesamte Brücke reicht – können sich die Besucher aufhalten und die mehrdimensionale Brücke über Rampen und Treppen erkunden. Bemerkenswert ist die gute Zusammenarbeit der Architekten und Ingenieure, die es tatsächlich geschafft haben, eine strukturelle Form mit der Gestaltung eines abwechslungsreichen Lebensraums zu verbinden. Wenn die Planer an dieser Stelle nicht zusammenarbeiten, ruinieren statische Elemente oft die architektonische Gestaltung und das Raumerlebnis.

 

Bei der Konzeption von Architektur sollte nicht wie so oft die Form und Gestaltung im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die eigentliche Nutzung. Für die erfolgreiche Umsetzung eines spannenden Entwurfes, der im Alltagsleben der Menschen Platz finden soll, ist es essenziell, den Bezug zu menschlichen Lebensräumen herzustellen und in Gemeinschaftsformen zu denken, die Raum zur individuellen Realisierung bieten und so ein Ergebnis erzielen, dass als gegenwärtiges Gesellschaftsprodukt gilt – eine sozial geprägte, universale Architektur, die auch in der Zukunft weiter besteht.

Mit der Pol-e-Tabiat-Brücke wurde eine Plattform geschaffen, die dem Aussichtspunkt des Königs auf der „Kahju-Brücke“ von 1650 ähnelt. Die Bewohner und Besucher Teherans können von hier aus einen Blick auf die Stadtkulisse werfen und gleichzeitig die Berge dahinter wahrnehmen. Es ist ein Ort sozialer Gerechtigkeit, der jederzeit zugängig für alle ist und das Gefühl vermittelt, Teil der Stadt zu sein. Außerdem verdeutlicht er das Recht der Menschen auf einen freien, öffentlich zugänglichen, qualitativen Raum und den Respekt, den ihnen die gebaute Umwelt entgegenzubringen hat. Rechte, die zwar in einer dynamischen Stadt wie Teheran selbstverständlich erscheinen, aber mit Blick auf die Politik nicht unbedingt selbstverständlich sind.

 

Im Oktober dieses Jahres hat Araghian mit der Pol-e-Tabiat-Brücke den Aga-Khan-Preis für Architektur gewonnen. Alle drei Jahre werden mit dieser Auszeichnung Projekte gekürt, die Beispiele qualitativ hochwertiger Architekturen und Verbesserungen der allgemeinen Lebensqualität sind. Gleichzeitig thematisieren diese Projekte aber auch die Erwartungen und Wünsche in vorrangig muslimisch geprägten Gesellschaften. Als junge Architektin ist eine solche internationale Anerkennung natürlich bemerkenswert. Das Unterstreichen der Tatsache, dass sie eine junge Iranerin ist, spielt für Araghian jedoch keine Rolle. Zwar habe das Projekt dadurch mehr Aufmerksamkeit gewonnen, aber zum einen sei ihr Arbeitskollege ein Mann und zum anderen sei die Konstruktionswelt für beide – Männer und Frauen – nicht immer einfach zu meistern. Wichtiger als der Preis selbst sei aber die Tatsache, dass das Projekt von der Bevölkerung angenommen wird und zu einem Ort des gemeinschaftlichen Lebens geworden ist.

 

Dieser Text ist zuerst in der Politik & Kultur 1/17 erschienen.

Riccarda Cappeller
Riccarda Cappeller ist Architekturjournalistin mit Fokus auf Projekten mit sozialem Hintergrund und neuen Nutzungsformen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz-Universität Hannover.
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