„Nicht erhältlich“

Zensur und Menschenrechtsverletzungen im Iran

Erlauben Sie mir meinen Artikel mit einer persönlichen Erinnerung zu beginnen. Es geschah vor 35 Jahren, als ich noch 18 Jahre alt war. Ich hatte gerade mein Abitur gemacht, konnte aber wegen der Schließung der Universitäten aufgrund der sogenannten „Kulturrevolution“ kein Studium aufnehmen.

 

Ich freute mich aufs Nichtstun und nutzte die Gelegenheit, Bücher zu lesen. Ich begrüßte sogar heimlich die Schließung der Universitäten und entschloss mich, meine Bildungslücken in gewissen Gebieten zu schließen.

 

Damals waren Bücher die wichtigste Quelle für die Aneignung von Wissen; dazu nutzte ich die Bibliothek in unserem Stadtteil.

 

Früh morgens bestritt ich den Fußmarsch von einer halben Stunde zur Bibliothek, die ich manchmal erst in der Dunkelheit wieder verließ. In meinem jugendlichen Enthusiasmus erhoffte ich mir, durch Lesen meine Träume erfüllen zu können.

Träume, die sich sehr bald in Luft auflösten. Viele Bücher waren einfach nicht zu haben. Wir durften uns nur Bücher aus den Listen der Bibliothek aussuchen, aber viele Bücher selbst aus diesen Listen waren „nicht erhältlich“.

 

„Nicht erhältlich?“ Es steht doch auf der Liste der Bibliothek, fragte ich immer. Es war im dritten Jahr der Islamischen Revolution und ich hatte das Ausmaß der revolutionären Säuberung noch nicht begriffen. Diese Bücher waren einfach weggesäubert. Und so erfolgte der erste erschreckende Schlag der Zensur auf meine Psyche und Träume.

 

Das Ungeheuer der Zensur hat mir in den folgenden Jahren unter hunderten Namen und Facetten gegenübergestanden und seinen Schatten über unser Leben geworfen. Viele Jahre später, an der Fakultät für Jura, fand ich die Hintergründe jener Säuberungen unter dem „Gesetz zur Regelung der beschlagnahmten Bücher“: ein Erlass des Revolutionsrates in den ersten Tagen nach der Machtübernahme.

 

Die Verletzung dieses Menschenrechts geschieht immer im Namen des Gesetzes. „Das Pressegesetz“, „Das Islamische Strafgesetz“, „Die Vorschriften zur Permanenten Druckerlaubnis von Büchern“ und viele ähnliche Gesetze und Richtlinien dienen nur der Einschränkung dieses bedeutungsvollen Rechts im Iran.

 

Lassen Sie mich hier die Verletzung des Rechts auf freie Ausübung der Kunst und Kultur und freie Meinungsäußerung in zwei Gruppen, nämlich in „offizielle“ und „inoffizielle“ Verletzungen, unterteilen. Ich denke, totalitäre Systeme greifen zu nicht offiziellen Methoden, um die Rechte ihrer Bürger einzuschränken, wenn sie keine Möglichkeit finden, es auf legalem Weg zu tun.

 

Einschränkung der Rechte mit legalen rechtlichen Mitteln

Die iranische Verfassung garantiert freies Denken, freie Meinungsäußerung und die freie Ausübung künstlerischer und kultureller Tätigkeiten. Artikel 9 der Verfassung besteht auf den Grundsatz der Freiheit und verpflichtet die Regierung zu deren Einhaltung. Artikel 23 verbietet die Inquisition, Artikel 24 besteht auf freie Presse, Artikel 26 auf freie Parteien und Verbände und schließlich Artikel 27 auf Freiheit der Versammlung. Die Gesetzgebung macht auf all die Freiheiten aufmerksam. Jedoch bei der Aufstellung der Richtlinien des Buchdruckes, Veranstaltung von Kultur- und Kunstereignissen und Herausgabe jeder Art von Publikationen, sehen wir, dass für all das die Genehmigung staatlicher Stellen nötig ist. Strafverfolgung kann die Folge einer Verweigerung und Nichteinhaltung dieser Richtlinien sein.

 

Nach dem Pressegesetz ist die Herausgabe von Zeitschriften nur nach einer Genehmigung des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung, auch Erschad-Ministerium genannt, möglich und die Nichteinhaltung dieser Regel wird als Straftat geahndet. Weitere Genehmigungen werden benötigt für den Druck und die Abnahme von der Druckerei, denn sonst dürfen die Publikationen nicht vertrieben werden. Dieses Gesetz verbietet die Veröffentlichung von Artikeln und Schriften, die gegen die Verfassung verstoßen und bezichtigt dies als Straftat.

 

Ebenso ist die „Verbreitung von Unwahrheiten“ eine Straftat, womit eine Anzahl von Reportern und Kollegen im Pressewesen konfrontiert sind. Die Verordnung über „Die Ziele und Richtlinien des Buchdrucks“, die schon als Gesetz erachtet wird, schreibt vor, dass der Druck eines jeden Buches die Genehmigung des Erschad-Ministeriums benötigt. Dieses Gesetz wurde 2010 berichtigt. In dem Paragraph 1 der Novellierung ist das Ziel des Buchdrucks wie folgt definiert: „Erbauung der religiösen und nationalen Kultur durch Verbreitung von Wissenschaften und Verfestigung der islamischen, iranischen und revolutionären Werte durch das Garantieren des freien Buchdrucks, den Schutz der Ehre und Freiheit von Schriften, den Schutz des hohen Stellenwerts der Wissenschaft und der religiösen Überzeugung und des Denkens…“.

 

Dieses Gesetz verpflichtet das Erschad-Ministerium, die Veröffentlichung von Büchern ohne Genehmigung zu unterbinden und die Namen der Verleger der Justiz bekanntzugeben. Die Aufsicht auf die Bereiche der Kunst und Kultur ist jedoch nicht beschränkt auf die Gesetzesorgane und ihre Maßregelungen. Wie wir wissen, ist die Produktion von Spielfilmen sowie das Veranstalten von Musikkonzerten ohne Genehmigung der Behörden nicht erlaubt, denn der Schutz der religiösen Werte obliegt dem Staat.

 

Dennoch, wenn die Behörde trotz all der angewandten Schikanen für eine Filmproduktion oder Musikveranstaltung eine Genehmigung ausstellt, heißt es nicht, dass dies von allen angenommen wird. Wenn manche es aus ihren religiösen oder ethischen Ansichten für inakzeptabel halten, verhindern sie mit Tumulten und Drohgebärden die Vorführungen.

 

Das letzte Ereignis dieser Art im Iran war das Verbot eines Musikkonzerts in der Stadt Mashad, die zu den konservativen, religiösen Städten Irans gezählt wird. Daraufhin meldete sich die Stadt Qom, eine andere religiöse Stadt und kurz darauf weitere Städte, die sich ebenfalls als besonders glaubensstark darstellen wollten, und verlangten ein Dauerverbot für alle Musikkonzerte. In all diesen Fällen fragt kein Beamter nach den Rechten von Musik- und Kulturliebhabern in diesen Städten.  Nach all diesen Erläuterungen ist man berechtigt zu fragen, was wir als Journalisten, Künstler, Autoren und Rechtsanwälte tun, um die Rechte unserer Bürger zu verteidigen. Ich habe hierzu unzählige Beispiele, in denen die iranischen Bürger nicht geschwiegen, sondern für die Einhaltung ihrer eigenen Rechte gekämpft haben.

 

Viele Journalisten haben Gefängnisstrafen in Kauf genommen und darüber berichtet. Viele Autoren haben trotz der Schwierigkeiten, die manchmal sogar ihr Leben gefährdeten, ihre Arbeit fortgesetzt. Ebenso viele Rechtsanwälte haben ohne Furcht vor Folgen und Kosten diesen Journalisten, Künstlern und Autoren beigestanden. Ich hoffe der Tag wird kommen, an dem keiner für die Realisierung seiner Grundrechte Kosten tragen muss.

 

Dieser Text ist zuerst in der Politik & Kultur 1/17 erschienen.

Nasrin Sotudeh
Nasrin Sotudeh ist Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin und Trägerin des Sacharow-Preises (2012)
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