Städte und Lebensräume werden häufig nur noch für Autos geplant und gebaut, nicht so sehr für die Menschen, die darin agieren. So entstehen Räume, die für Fußgänger unzugänglich sind und das soziale Leben in der Stadt erschweren. Besonders die großen Metropolen werden zu Autostädten, in denen der Mensch untergeordnet ist. So beschreibt die junge, iranische Architektin Leila Araghian auch ihre Heimatstadt Teheran. Sie gehört zu einer neuen Generation von Architekten und sieht ihr Fachgebiet als kulturellen Akt, der es ermöglicht, neue Paradigmen zu schaffen, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern.
Mit fast 14 Millionen Einwohnern leben in der Metropole Teheran ca. 20 Prozent der Landesbevölkerung. Mehrere Highways bestimmen das Bild der Stadt. Sie durchkreuzen unter anderem einen 500 Hektar großen Bereich im Norden, der im Masterplan von 2003 zu einem öffentlichen Freizeitgebiet erklärt wurde.
Vor acht Jahren fand hier ein Wettbewerb zur Weiterentwicklung dieses Standortes statt. Dabei wurde nach Vorschlägen gesucht, um das durchtrennte Stadtgebiet zwischen Teleghani Park und Abo-Atash Park wieder zu verknüpfen. Durch eine besondere Form, ein Symbol, sollte dem gesamten Gebiet eine neue Identität gegeben werden. Araghian studierte damals noch, nahm aber trotzdem an diesem Wettbewerb teil und gewann ihn mit ihrer Idee für die Brücke Pol-e-Tabiat. So entstand an dieser Stelle das erste Großprojekt der Iranerin, das heute neben dem Azadi Tower zu einem Symbol moderner Architektur Teherans geworden ist.
Die „Natur-Brücke“, „tabiat“ bedeutet übersetzt Natur, ist ein positives Ergebnis architektonischer Gestaltung von öffentlichem Raum. Sie ist ein Bauwerk, das von den Bewohnern Teherans nicht nur respektiert, sondern auch gut angenommen und genutzt wird. Man versammelt sich zum Spazieren gehen, Sport machen, Diskutieren, Essen, um an der frischen Luft zu sein und den Ausblick auf die Stadt zu genießen. Es ist ein Ort der Begegnung und ein Ort für die Menschen, der nicht durch den Verkehrsbetrieb gestört wird, sondern vielmehr über ihm steht. Hier dominiert der Fußgänger über das Automobil.
In enger Zusammenarbeit mit dem italienischen Ingenieurbüro Matteo Maffeis und den Kollegen Araghians bei Diba Tensile Architecture entstand der Entwurf für die Brücke. Drei Jahre vor dem großen Durchbruch, der durch das Brückenkonzept gelang, hatte ihr Studienfreund Alireza Behzadi dieses Büro für Membranstrukturen gegründet. Nach den ersten Projekten und Experimenten an der Nähmaschine begann sich das Unternehmen zu entwickeln und zu professionalisieren. In dem Freizeitgebiet im Norden der Stadt hatte die Gruppe bereits kleinere Bauvorhaben wie ein Amphitheater und eine Brücke mit schattenspendenden Textilstrukturen realisiert. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Pavillonarchitekturen und die dadurch bereits erworbene Ortskenntnis führten zur Teilnahme am Wettbewerb der Brücke. Beide Gebilde erinnern an die Seilnetzkonstruktionen Frei Ottos, der als Meister dieser Architekturformen gilt. Sein Bauen mit minimalem Materialaufwand, die Verbindung von Technik und ökologischem Denken sowie die leichten, zeltartigen Gebilde haben sowohl die Forschung als auch die Praxis der Architektur sehr geprägt. Im Iran ist diese Art zu bauen neu und unkonventionell. Die jungen Architekten von Diba Tensile Architecture haben es sich zum Ziel gesetzt, mit Materialien und Strukturen zu arbeiten, die im Iran noch neu sind, in anderen Teilen der Welt aber bereits vielfach verwendet werden. Es geht ihnen nicht um das Übliche, für den Iran typische, sondern um innovative Projekte, die sowohl die Stadt Teheran als auch den Iran ein Stück weiterbringen.
Teheran wird nicht nur von Verkehrswegen durchkreuzt, sondern in vielen Nachbarschaften fließen auch kleine Flüsse. Leila Araghian beschreibt eine dieser Situationen so: „Ich lief mit einem Freund herum und an einer kleinen Brücke entdeckten wir, direkt vor einem Haus, ein Sofa, das wir auf die Brücke zogen und uns daraufsetzten. Mir wurde bewusst, dass man es gewohnt ist, Brücken zu überqueren, aber nur selten darauf verweilt. Wenn man doch einmal stehen bleibt und sich umschaut, entdeckt man neue Perspektiven und gewinnt andere Eindrücke und Bilder als vom Anfang oder Ende der Brücke aus“.
Aus der Erinnerung an diese Begegnung und die dort geschaffene Atmosphäre entstand die Idee für das neue Brückenprojekt Pol-e-Tabiat. Soziale Aspekte und die Frage nach den Möglichkeiten, die ein öffentlicher Raum zu bieten hat, was dieser also „tun“ kann, waren zunächst wichtiger, als das endgültige Design der Brücke. Die Architekten versuchten das, was für den Menschen wichtig ist – ob physischer oder psychischer Natur, in den Entwurf zu integrieren und umzusetzen.