Neue Träume für Europa

Diskussionsbeiträge aus der Veranstaltungsreihe "Reden über Veränderung"

Guérot: Als ich 2013 angefangen habe mit Robert Menasse in der FAZ das Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik zu veröffentlichen, wurde ich vom politischen Raum abgewatscht. Wir hatten damals das Regnum der Alternativlosigkeit. Heute darf man öffentlich träumen, damals war alles alternativlos gesetzt. Wir waren in den Strukturen der Totalität des Denkens. Im politischen Raum durfte ich nicht mehr als Europaexpertin auftreten, weil ich nachdachte, was Europa fehlt: die Rechtsgleichheit der Bürger. Dafür öffneten sich die Türen der Kultur. Als Bürger einer Europäischen Republik könnten wir in den Zustand der Rechtsgleichheit gehen, ohne Identität, Heimat und Kultur einzubüßen. Zu Roger de Weck: Der Unterschied zwischen der Schweiz und der EU ist, dass in der Schweiz noch alle Bürger vor dem Recht gleich sind. Das ist das Manko der EU, deswegen können wir heute keine politische Union und keine europäische Demokratie werden.

 

de Weck: Wäre schön, wenn alle Schweizerinnen und Schweizer vor dem Recht gleich wären. Dem ist nicht so. Es gibt von Kanton zu Kanton, von Gemeinde zu Gemeinde gewaltige Unterschiede, etwa im Steuersatz. In der Schweiz definieren die Menschen sich vor allem über ihre Gemeinde und ihren Kanton. Man ist Bürger der eigenen Gemeinde, erst danach Schweizer Bürger. So sehr ich mir eine Europäische Republik ersehne, so wenig erhoffe ich mir eine europäische Nation. Mich fasziniert an der EU, dass sie ein Projekt ist; die Schweiz ist auch ein Projekt und keine Nation. Wir kennen das älteste Ordnungsmuster für Raum und Gesellschaft: den Stamm. Es folgten die Theokratien, die mündeten in Monarchien, in Imperien. Es folgte die Nation, das jüngste Gebilde. Es ist so lebendig, weil es diffus ist, da bin ich mit Ulrike Guérot einig. Aber die EU ist weder Nation noch Reich, zum Glück. Sie ist etwas, was es zuvor nicht gab – eine Art Vernetzung. Das ist viel stärker in die Zukunft weisend als die Meganationen USA oder China, die bipolar die Welt beherrschen. Wir Europäer machen uns die ganze Zeit schlecht, dabei haben wir das Zukunftsmodell entwickelt. Wenn aus der EU eine Nation würde, wäre das für mich das Schlimmste. Ich liebe es, wenn wir Bürgerinnen und Bürger gemeinsame Projekte haben. Wenn man eine Republik als Projekt definiert, wunderbar. Wenn man eine Republik als Nation definiert, schlimm.

 

König: Ich stimme Ihnen zu, Herr de Weck. Mit all ihren Fehlern ist die EU die einzige Friedensunion, die wir haben. Sie bietet einen außerordentlichen Freiraum. Mit der Galerie arbeiten wir viel in China. Da eine Ausstellungstournee auf die Beine zu bekommen zwischen Shanghai und Beijing, ist kaum machbar, da es die Zustimmung des Staates braucht. Die Freiheit ist nicht gegeben. Das sind Garanten, die uns die EU bietet. Eine Europäische Nation ist schwierig, das merken wir auch anhand der Differenzen mit den Bundesländern in Deutschland.

 

Zaree: Aktuell gibt es ein Gefühl der Destabilisierung und Orientierungslosigkeit. Neue Rechte versprechen Homogenität, Heimat und Abgrenzung von den sogenannten anderen. Das Stigmatisieren treibt sie voran. Damit haben sie extremen Zulauf. Das kann man nicht ignorieren. Es läuft dem zuwider, wofür die europäische Idee mal stand: Gleichheit unabhängig von Religion, Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe. Das ist eine extreme Errungenschaft, die diese Rechten angreifen und destabilisieren. Wir müssen extrem wach sein und unsere Werte hochhalten. Dennoch müssen wir begründete Kritik an Europa zulassen. Die EU hält Menschenrechte hoch, aber für wen gelten die Menschenrechte? Für wen gelten sie, wenn wir Gesetze verabschieden, die das Massensterben im Mittelmeer legitimieren? Für wen gelten sie, wenn wir Grenzabkommen mit Staaten eingehen, die diese Menschenrechte nicht respektieren? Es braucht Kritik an Europa.

 

de Weck: Europa trägt den Namen einer Ausländerin: einer phönizischen Prinzessin, die auf dem Gebiet des heutigen Gazastreifens am Strand mit Freundinnen spielt, da kommt Zeus und entführt sie. Ein Gewaltakt. Mit anderen Worten, der Name verpflichtet uns: Europa, die Namensgeberin, erfuhr die Gewalt an den Stränden des Mittelmeeres, wo wieder Katastrophen stattfinden. Gleichzeitig bin ich optimistisch, weil die erwähnten Rechten extrem starke Gegenkräfte wecken. Wir sehen plötzlich, wie eine europäische Öffentlichkeit entsteht. Es wird weniger diskutiert über das, was in den Brüsseler Institutionen passiert, vielmehr haben wir einen Kulturkampf in der europäischen Öffentlichkeit. Auf der einen Seite diejenigen, die in Richtung Europäische Republik wollen: Der französische Präsident Macron skizziert seine Vision in 28 europäischen Medien. Auf der anderen Seite steht der ungarische Ministerpräsident Orbán, der ein christlich-abendländisches Europa fordert. Jetzt wird debattiert. Die Neonationalisten rund um Orbán wollen nicht mehr heraus aus der EU, die wollen eine illiberale EU. Das weckt in der Europäischen Union massive Gegenkräfte. Das Ganze gewinnt zusätzlich an Schub, weil das, was Großbritannien bietet, abschreckt. Ich meine, es gibt nichts Reaktionäreres: Großbritannien versucht, die Vergangenheit wiederherzustellen, aus dem Omelett wieder ein Ei zu machen. Laut Eurobarometer ist die EU so populär wie selten. Wir sind in einer der besten, aber auch schwierigsten Phasen in der Geschichte der europäischen Einigung. Mir wäre natürlich lieber, wir hätten diese Rechten nicht, auch wenn sie dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. In meinem Land wenigstens sind die Populisten auf dem Rückzug, die Fortschrittskräfte kommen wieder, aber die müssen wieder zueinanderfinden: Die Liberalen und die Linken verband über alle Jahrhunderte der Fortschrittsglaube, der Zukunftsoptimismus. Den hatten sie eine Zeit lang verloren. Die 16-Jährigen auf der Straße zeigen, was Zukunftsorientierung ist. Die sind letztlich optimistischer als viele, die die ökologische Diskussion entsorgt hatten – wer handelt, ist optimistisch.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

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