23. April 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Europawahl 2019

Neue Träume für Europa


Diskussionsbeiträge aus der Veranstaltungsreihe "Reden über Veränderung"

Kurz vor der neunten Direktwahl zum Europäischen Parlament sprachen die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die 2014 das Denklabor European Democracy Lab gegründet hat, der Publizist Roger de Weck, früherer Chef des Schweizer Radios und Fernsehens und der Wochenzeitung Die Zeit, die Schauspielerin und Filmemacherin Maryam Zaree und der Kunstgalerist Johann König über die Zukunft unserer internationalen Gemeinschaft. Hans Dieter Heimendahl moderierte die Diskussionsrunde, die am 7. April 2019 als Kooperation der Initiative kulturelle Integration, des Deutschen Kulturrates, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Berliner Festspiele in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur stattfand. Hier lesen Sie Auszüge.

 

Hans Dieter Heimendahl: Maryam Zaree, Sie sind Schauspielerin, Autorin, Filmemacherin. Zur Berlinale haben Sie Ihr jüngstes Werk „Born in Evin“ vorgestellt. Sie sind in einem Gefängnis in Teheran geboren, als Baby nach Deutschland emigriert und in Frankfurt aufgewachsen. Für Ihren Film haben Sie Gespräche mit Menschen geführt, die eine ähnliche biografische Zäsur haben. Ist Europa nach wie vor ein Sehnsuchtsort?

 

Maryam Zaree: Die Frage ist schwierig zu beantworten, denn ich gehöre nicht zum „Außen“, sondern bin Teil Europas. Ich musste mein Leben lang zwischen diversen Herkünften und Identitäten navigieren. Für mich ist es kein Widerspruch. Heimat ist nicht an nationalstaatliche Grenzen gebunden und Zugehörigkeit kann vielfältig sein. Ich trage etwas in mir, was zutiefst europäisch ist: Vielfältigkeit – und eine Form von Einheit in der Pluralität.

 

Heimendahl: Das ist ein schöner Leitbegriff. Johann König, Sie sind Galerist in Berlin. Ihnen ist es wichtig, Hemmschwellen abzubauen. Dabei haben Sie Aktionen entwickelt, die zwischen Kunst und Souvenirproduktion schweben. Eine dieser Aktionen ist ein Hoodie in Europa-Blau mit dem Kreis der europäischen Sterne der zwölf Gründerstaaten. Aber einer fehlt. Wie sind Sie darauf gekommen?

 

Johann König: Die Galerie, die ich betreibe, ist in Berlin-Kreuzberg. Dort gibt es sehr viel Weihnachtsdekoration. 2016 haben wir mit dem Architekturbüro morePlatz anstelle von Weihnachtsdeko eine riesige Leuchtschrift auf dem Gebäude angebracht: „Europa“. Ein starker Ausspruch für Europa. Es gab zu dieser Aktion sehr persönliche Impulsvorträge. Der gemeinsame Ansatz mit dem Magazin 032c war die Frage, wie können wir junge Menschen erreichen? Ich bin 1981 geboren. Wenn wir in den Urlaub gefahren sind, bin ich durch europäische Grenzen mit Passkontrollen gekommen. Die jüngeren Menschen haben kein Verständnis, in welcher Komfortzone wir in Europa leben – mit Studium in London, Auslandsaufenthalt in Madrid u.v.m. Man erreicht das junge Publikum am besten, indem man dieselbe Sprache spricht – und das Ganze so cool macht, dass es transportierbar ist. Die EU kann dies nicht so leicht umsetzen, weil sie sich präziser positionieren muss. Dieser Pullover ist das Souvenir der Abschlussveranstaltung der Aktion. Er wurde zum infektiösen, sich verbreitenden Element. Sogar der Enkelsohn von Wolfgang Ischinger hat ihn in der Galerie als Weihnachtsgeschenk gekauft. Ischinger trug den Pullover bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

 

Heimendahl: So wurde es ein Bekenntnispullover. Ulrike Guérot, Sie sind Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung und Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Sie haben eine Prominenz für einen bestimmten Traum der Europäischen Republik. Wie soll die aussehen?

 

Ulrike Guérot: Es ist gar kein Traum mehr, seitdem die Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock die Perspektive einer föderalen europäischen Republik in ihr Wahlprogramm übernommen haben. Die Linke hat sich zu 44 Prozent auf dem Parteitag in Bonn dafür ausgesprochen. Es gibt die französische Partei „Pour une République Europeenne“. Das Diskussionsangebot der Europäischen Republik schlägt vor, dass wir das Projekt der europä-ischen Integration, mit erfolgreichem Binnenmarkt und Währung, um eine Demokratie komplementieren. Bei einer Republik haben die meisten Leute einen emotionalen Anschlussbogen: Ich bin betroffen, ich bin der Souverän, ich bin dabei. Bei der Republik geht es um das Gemeinwohl. Ich wünsche mir ein Europa, in dem die Bürgerinnen und Bürger Europas gleich sind vor dem Recht. Der Binnenmarkt ist letztlich nichts anderes als Rechtsgleichheit für Güter und auch das Geld ist gleich vor dem Recht. Ich finde das eine plausible und machbare Vorstellung, bei der wir Markt und Währung in eine europäische Demokratie einbetten.

 

Heimendahl: Roger de Weck, Sie sind Journalist. Sie haben Bücher geschrieben, z. B. über das Verhältnis der Schweizer zu den Deutschen. Wenn Sie sich diese kulturellen Unterschiede vor Augen führen und sich eine Europäische Republik vorstellen, könnte man fabulieren, dass dies das Übertragen des Schweizer Modells auf Europa wäre. Sind Sie da dabei?

 

Roger de Weck: Das ist ja der Widerspruch: Die Schweiz hat ein Jahrhundert vor der europäischen Einigung im Kleinen die EU vorweggenommen. In der Schweizer Geschichte gab es in jedem Jahrhundert einen Bürgerkrieg, bis nach dem letzten die Eidgenossen klüger wurden und zwei Dinge taten: Sie verschachtelten die Interessen der 25 Kantone so weit, dass diese kein Interesse mehr hatten, Krieg gegeneinander zu führen. Und sie schufen eine komplexe, langweilige, hocheffiziente Kompromissmaschine: Bundesbern, die Hauptstadt. Ein Jahrhundert später, 1950, machen die Europäer – nach zwei Weltkriegen, die man als europäische Bürgerkriege interpretieren kann, und nach der totalen Katastrophe unseres Kontinents, dem Holocaust – etwas Ähnliches: Sie verschachteln die Interessen der westeuropäischen Nationen, auf dass sie nicht mehr gegeneinander Krieg führen können. Sie beginnen bewusst mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Man vergemeinschaftet das, was man braucht, um Krieg zu führen. Und sie schaffen eine komplexe, langsame, aber hocheffiziente Kompromissmaschine: Brüssel. Plötzlich herrscht Frieden auf diesem Teil des Kontinents. Dann fällt die Berliner Mauer, und überall dort, wo die EU den Transformationsländern eine Beitrittsperspektive eröffnen kann, bleibt es friedlich. Überall dort, wo die EU vernünftigerweise keine Beitrittsperspektive eröffnen darf, wie im Balkan, der Ukraine, kommt es wieder zu Blutbädern. Ohne EU würde Victor Orbán Krieg führen, um die ungarischen Minderheiten heim ins Reich zu holen. Was ist das Friedenstiftende an der EU? Durch starke, komplexe Institutionen bringt sie die Kulturen einander näher. Ich glaube, der Mensch, die Gesellschaft, die Länder, Europa sind komplex. Das muss sich in komplexen politischen Institutionen abbilden. Dort, wo man top-down regieren möchte – wie im dirigistischen Frankreich, im „The-Winner-Takes-It-All“-Großbritannien, im Berlusconi-Italien –, schreibt man Misserfolgsgeschichten. Dort, wo es komplex, föderalistisch, sozialpartnerschaftlich, langsamer und mühseliger ist; dort, wo man die Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt – wie in den nordischen Staaten, den Niederlanden, der Bundesrepublik, der Schweiz –, ist es erfolgreich.

 

Heimendahl: Welche Rolle spielt die Kultur für das europäische Zusammenwachsen? Ich bin mit der Annahme aufgewachsen, je mehr wir übereinander wissen und einander verstehen, desto mehr werden wir zusammenwachsen. In fast allen Ländern Europas gibt es Parteien, die sich von diesem Entwicklungsprozess absetzen und ihn als nicht heilbringend ansehen. Spielt Kultur keine Rolle für die Einigung, Frau Guérot?

Guérot: Als ich 2013 angefangen habe mit Robert Menasse in der FAZ das Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik zu veröffentlichen, wurde ich vom politischen Raum abgewatscht. Wir hatten damals das Regnum der Alternativlosigkeit. Heute darf man öffentlich träumen, damals war alles alternativlos gesetzt. Wir waren in den Strukturen der Totalität des Denkens. Im politischen Raum durfte ich nicht mehr als Europaexpertin auftreten, weil ich nachdachte, was Europa fehlt: die Rechtsgleichheit der Bürger. Dafür öffneten sich die Türen der Kultur. Als Bürger einer Europäischen Republik könnten wir in den Zustand der Rechtsgleichheit gehen, ohne Identität, Heimat und Kultur einzubüßen. Zu Roger de Weck: Der Unterschied zwischen der Schweiz und der EU ist, dass in der Schweiz noch alle Bürger vor dem Recht gleich sind. Das ist das Manko der EU, deswegen können wir heute keine politische Union und keine europäische Demokratie werden.

 

de Weck: Wäre schön, wenn alle Schweizerinnen und Schweizer vor dem Recht gleich wären. Dem ist nicht so. Es gibt von Kanton zu Kanton, von Gemeinde zu Gemeinde gewaltige Unterschiede, etwa im Steuersatz. In der Schweiz definieren die Menschen sich vor allem über ihre Gemeinde und ihren Kanton. Man ist Bürger der eigenen Gemeinde, erst danach Schweizer Bürger. So sehr ich mir eine Europäische Republik ersehne, so wenig erhoffe ich mir eine europäische Nation. Mich fasziniert an der EU, dass sie ein Projekt ist; die Schweiz ist auch ein Projekt und keine Nation. Wir kennen das älteste Ordnungsmuster für Raum und Gesellschaft: den Stamm. Es folgten die Theokratien, die mündeten in Monarchien, in Imperien. Es folgte die Nation, das jüngste Gebilde. Es ist so lebendig, weil es diffus ist, da bin ich mit Ulrike Guérot einig. Aber die EU ist weder Nation noch Reich, zum Glück. Sie ist etwas, was es zuvor nicht gab – eine Art Vernetzung. Das ist viel stärker in die Zukunft weisend als die Meganationen USA oder China, die bipolar die Welt beherrschen. Wir Europäer machen uns die ganze Zeit schlecht, dabei haben wir das Zukunftsmodell entwickelt. Wenn aus der EU eine Nation würde, wäre das für mich das Schlimmste. Ich liebe es, wenn wir Bürgerinnen und Bürger gemeinsame Projekte haben. Wenn man eine Republik als Projekt definiert, wunderbar. Wenn man eine Republik als Nation definiert, schlimm.

 

König: Ich stimme Ihnen zu, Herr de Weck. Mit all ihren Fehlern ist die EU die einzige Friedensunion, die wir haben. Sie bietet einen außerordentlichen Freiraum. Mit der Galerie arbeiten wir viel in China. Da eine Ausstellungstournee auf die Beine zu bekommen zwischen Shanghai und Beijing, ist kaum machbar, da es die Zustimmung des Staates braucht. Die Freiheit ist nicht gegeben. Das sind Garanten, die uns die EU bietet. Eine Europäische Nation ist schwierig, das merken wir auch anhand der Differenzen mit den Bundesländern in Deutschland.

 

Zaree: Aktuell gibt es ein Gefühl der Destabilisierung und Orientierungslosigkeit. Neue Rechte versprechen Homogenität, Heimat und Abgrenzung von den sogenannten anderen. Das Stigmatisieren treibt sie voran. Damit haben sie extremen Zulauf. Das kann man nicht ignorieren. Es läuft dem zuwider, wofür die europäische Idee mal stand: Gleichheit unabhängig von Religion, Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe. Das ist eine extreme Errungenschaft, die diese Rechten angreifen und destabilisieren. Wir müssen extrem wach sein und unsere Werte hochhalten. Dennoch müssen wir begründete Kritik an Europa zulassen. Die EU hält Menschenrechte hoch, aber für wen gelten die Menschenrechte? Für wen gelten sie, wenn wir Gesetze verabschieden, die das Massensterben im Mittelmeer legitimieren? Für wen gelten sie, wenn wir Grenzabkommen mit Staaten eingehen, die diese Menschenrechte nicht respektieren? Es braucht Kritik an Europa.

 

de Weck: Europa trägt den Namen einer Ausländerin: einer phönizischen Prinzessin, die auf dem Gebiet des heutigen Gazastreifens am Strand mit Freundinnen spielt, da kommt Zeus und entführt sie. Ein Gewaltakt. Mit anderen Worten, der Name verpflichtet uns: Europa, die Namensgeberin, erfuhr die Gewalt an den Stränden des Mittelmeeres, wo wieder Katastrophen stattfinden. Gleichzeitig bin ich optimistisch, weil die erwähnten Rechten extrem starke Gegenkräfte wecken. Wir sehen plötzlich, wie eine europäische Öffentlichkeit entsteht. Es wird weniger diskutiert über das, was in den Brüsseler Institutionen passiert, vielmehr haben wir einen Kulturkampf in der europäischen Öffentlichkeit. Auf der einen Seite diejenigen, die in Richtung Europäische Republik wollen: Der französische Präsident Macron skizziert seine Vision in 28 europäischen Medien. Auf der anderen Seite steht der ungarische Ministerpräsident Orbán, der ein christlich-abendländisches Europa fordert. Jetzt wird debattiert. Die Neonationalisten rund um Orbán wollen nicht mehr heraus aus der EU, die wollen eine illiberale EU. Das weckt in der Europäischen Union massive Gegenkräfte. Das Ganze gewinnt zusätzlich an Schub, weil das, was Großbritannien bietet, abschreckt. Ich meine, es gibt nichts Reaktionäreres: Großbritannien versucht, die Vergangenheit wiederherzustellen, aus dem Omelett wieder ein Ei zu machen. Laut Eurobarometer ist die EU so populär wie selten. Wir sind in einer der besten, aber auch schwierigsten Phasen in der Geschichte der europäischen Einigung. Mir wäre natürlich lieber, wir hätten diese Rechten nicht, auch wenn sie dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. In meinem Land wenigstens sind die Populisten auf dem Rückzug, die Fortschrittskräfte kommen wieder, aber die müssen wieder zueinanderfinden: Die Liberalen und die Linken verband über alle Jahrhunderte der Fortschrittsglaube, der Zukunftsoptimismus. Den hatten sie eine Zeit lang verloren. Die 16-Jährigen auf der Straße zeigen, was Zukunftsorientierung ist. Die sind letztlich optimistischer als viele, die die ökologische Diskussion entsorgt hatten – wer handelt, ist optimistisch.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.


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