Neue Träume für Europa

Diskussionsbeiträge aus der Veranstaltungsreihe "Reden über Veränderung"

Kurz vor der neunten Direktwahl zum Europäischen Parlament sprachen die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die 2014 das Denklabor European Democracy Lab gegründet hat, der Publizist Roger de Weck, früherer Chef des Schweizer Radios und Fernsehens und der Wochenzeitung Die Zeit, die Schauspielerin und Filmemacherin Maryam Zaree und der Kunstgalerist Johann König über die Zukunft unserer internationalen Gemeinschaft. Hans Dieter Heimendahl moderierte die Diskussionsrunde, die am 7. April 2019 als Kooperation der Initiative kulturelle Integration, des Deutschen Kulturrates, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Berliner Festspiele in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur stattfand. Hier lesen Sie Auszüge.

 

Hans Dieter Heimendahl: Maryam Zaree, Sie sind Schauspielerin, Autorin, Filmemacherin. Zur Berlinale haben Sie Ihr jüngstes Werk „Born in Evin“ vorgestellt. Sie sind in einem Gefängnis in Teheran geboren, als Baby nach Deutschland emigriert und in Frankfurt aufgewachsen. Für Ihren Film haben Sie Gespräche mit Menschen geführt, die eine ähnliche biografische Zäsur haben. Ist Europa nach wie vor ein Sehnsuchtsort?

 

Maryam Zaree: Die Frage ist schwierig zu beantworten, denn ich gehöre nicht zum „Außen“, sondern bin Teil Europas. Ich musste mein Leben lang zwischen diversen Herkünften und Identitäten navigieren. Für mich ist es kein Widerspruch. Heimat ist nicht an nationalstaatliche Grenzen gebunden und Zugehörigkeit kann vielfältig sein. Ich trage etwas in mir, was zutiefst europäisch ist: Vielfältigkeit – und eine Form von Einheit in der Pluralität.

 

Heimendahl: Das ist ein schöner Leitbegriff. Johann König, Sie sind Galerist in Berlin. Ihnen ist es wichtig, Hemmschwellen abzubauen. Dabei haben Sie Aktionen entwickelt, die zwischen Kunst und Souvenirproduktion schweben. Eine dieser Aktionen ist ein Hoodie in Europa-Blau mit dem Kreis der europäischen Sterne der zwölf Gründerstaaten. Aber einer fehlt. Wie sind Sie darauf gekommen?

 

Johann König: Die Galerie, die ich betreibe, ist in Berlin-Kreuzberg. Dort gibt es sehr viel Weihnachtsdekoration. 2016 haben wir mit dem Architekturbüro morePlatz anstelle von Weihnachtsdeko eine riesige Leuchtschrift auf dem Gebäude angebracht: „Europa“. Ein starker Ausspruch für Europa. Es gab zu dieser Aktion sehr persönliche Impulsvorträge. Der gemeinsame Ansatz mit dem Magazin 032c war die Frage, wie können wir junge Menschen erreichen? Ich bin 1981 geboren. Wenn wir in den Urlaub gefahren sind, bin ich durch europäische Grenzen mit Passkontrollen gekommen. Die jüngeren Menschen haben kein Verständnis, in welcher Komfortzone wir in Europa leben – mit Studium in London, Auslandsaufenthalt in Madrid u.v.m. Man erreicht das junge Publikum am besten, indem man dieselbe Sprache spricht – und das Ganze so cool macht, dass es transportierbar ist. Die EU kann dies nicht so leicht umsetzen, weil sie sich präziser positionieren muss. Dieser Pullover ist das Souvenir der Abschlussveranstaltung der Aktion. Er wurde zum infektiösen, sich verbreitenden Element. Sogar der Enkelsohn von Wolfgang Ischinger hat ihn in der Galerie als Weihnachtsgeschenk gekauft. Ischinger trug den Pullover bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

 

Heimendahl: So wurde es ein Bekenntnispullover. Ulrike Guérot, Sie sind Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung und Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Sie haben eine Prominenz für einen bestimmten Traum der Europäischen Republik. Wie soll die aussehen?

 

Ulrike Guérot: Es ist gar kein Traum mehr, seitdem die Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock die Perspektive einer föderalen europäischen Republik in ihr Wahlprogramm übernommen haben. Die Linke hat sich zu 44 Prozent auf dem Parteitag in Bonn dafür ausgesprochen. Es gibt die französische Partei „Pour une République Europeenne“. Das Diskussionsangebot der Europäischen Republik schlägt vor, dass wir das Projekt der europä-ischen Integration, mit erfolgreichem Binnenmarkt und Währung, um eine Demokratie komplementieren. Bei einer Republik haben die meisten Leute einen emotionalen Anschlussbogen: Ich bin betroffen, ich bin der Souverän, ich bin dabei. Bei der Republik geht es um das Gemeinwohl. Ich wünsche mir ein Europa, in dem die Bürgerinnen und Bürger Europas gleich sind vor dem Recht. Der Binnenmarkt ist letztlich nichts anderes als Rechtsgleichheit für Güter und auch das Geld ist gleich vor dem Recht. Ich finde das eine plausible und machbare Vorstellung, bei der wir Markt und Währung in eine europäische Demokratie einbetten.

 

Heimendahl: Roger de Weck, Sie sind Journalist. Sie haben Bücher geschrieben, z. B. über das Verhältnis der Schweizer zu den Deutschen. Wenn Sie sich diese kulturellen Unterschiede vor Augen führen und sich eine Europäische Republik vorstellen, könnte man fabulieren, dass dies das Übertragen des Schweizer Modells auf Europa wäre. Sind Sie da dabei?

 

Roger de Weck: Das ist ja der Widerspruch: Die Schweiz hat ein Jahrhundert vor der europäischen Einigung im Kleinen die EU vorweggenommen. In der Schweizer Geschichte gab es in jedem Jahrhundert einen Bürgerkrieg, bis nach dem letzten die Eidgenossen klüger wurden und zwei Dinge taten: Sie verschachtelten die Interessen der 25 Kantone so weit, dass diese kein Interesse mehr hatten, Krieg gegeneinander zu führen. Und sie schufen eine komplexe, langweilige, hocheffiziente Kompromissmaschine: Bundesbern, die Hauptstadt. Ein Jahrhundert später, 1950, machen die Europäer – nach zwei Weltkriegen, die man als europäische Bürgerkriege interpretieren kann, und nach der totalen Katastrophe unseres Kontinents, dem Holocaust – etwas Ähnliches: Sie verschachteln die Interessen der westeuropäischen Nationen, auf dass sie nicht mehr gegeneinander Krieg führen können. Sie beginnen bewusst mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Man vergemeinschaftet das, was man braucht, um Krieg zu führen. Und sie schaffen eine komplexe, langsame, aber hocheffiziente Kompromissmaschine: Brüssel. Plötzlich herrscht Frieden auf diesem Teil des Kontinents. Dann fällt die Berliner Mauer, und überall dort, wo die EU den Transformationsländern eine Beitrittsperspektive eröffnen kann, bleibt es friedlich. Überall dort, wo die EU vernünftigerweise keine Beitrittsperspektive eröffnen darf, wie im Balkan, der Ukraine, kommt es wieder zu Blutbädern. Ohne EU würde Victor Orbán Krieg führen, um die ungarischen Minderheiten heim ins Reich zu holen. Was ist das Friedenstiftende an der EU? Durch starke, komplexe Institutionen bringt sie die Kulturen einander näher. Ich glaube, der Mensch, die Gesellschaft, die Länder, Europa sind komplex. Das muss sich in komplexen politischen Institutionen abbilden. Dort, wo man top-down regieren möchte – wie im dirigistischen Frankreich, im „The-Winner-Takes-It-All“-Großbritannien, im Berlusconi-Italien –, schreibt man Misserfolgsgeschichten. Dort, wo es komplex, föderalistisch, sozialpartnerschaftlich, langsamer und mühseliger ist; dort, wo man die Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt – wie in den nordischen Staaten, den Niederlanden, der Bundesrepublik, der Schweiz –, ist es erfolgreich.

 

Heimendahl: Welche Rolle spielt die Kultur für das europäische Zusammenwachsen? Ich bin mit der Annahme aufgewachsen, je mehr wir übereinander wissen und einander verstehen, desto mehr werden wir zusammenwachsen. In fast allen Ländern Europas gibt es Parteien, die sich von diesem Entwicklungsprozess absetzen und ihn als nicht heilbringend ansehen. Spielt Kultur keine Rolle für die Einigung, Frau Guérot?

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