Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich vor Kurzem genötigt fühlte, einmal nachzusehen, wer mit „Europa“ wirklich gemeint ist. Von meiner humanistischen Grundausbildung waren nur die Stichworte „junge Frau“ und „Stier“ übrig geblieben. So viel zum Thema „Nachhaltigkeit in der gymnasialen Didaktik“. Um diesen peinlichen Bildungskrater schleunigst und unauffällig zuzuschaufeln, habe ich mir alles Weitere zusammengegoogelt.
Europa ist ein zusammengesetztes griechisches Wort, das entweder „die mit der weiten Sicht“ oder – weniger schmeichelhaft – „die Breitgesichtige“ bedeutet. Allerdings gibt es auch Ableitungen aus dem Semitischen und sogar dem Akkadischen. Nach der griechischen Mythologie war Europa eine der vielen freiwilligen oder eher unfreiwilligen Geliebten des Götterkönigs Zeus. Allzu breitgesichtig dürfte sie nicht gewesen, sonst hätte die Tochter des phönizischen Königs Agenor nicht die unbändige Begierde des Gottes geweckt. Sie soll so schön gewesen sein, dass Zeus eine besondere List anwandte, um sie – unbeobachtet von seiner aus besten Gründen notorisch eifersüchtigen Gemahlin Hera – in Besitz zu nehmen. Als die junge Prinzessin einmal mit ihren Freundinnen am Strand von Sidon spielte, verwandelte sich Zeus in einen schneeweißen Stier. Da sie offenkundig über keine weite Sicht verfügt, ließ sie sich dazu verleiten, auf seinen Rücken zu klettern. Woraufhin der Gott-Stier in die Fluten lief und mit ihr bis nach Kreta schwamm. Dort verwandelte er sich zurück und hatte sein Vergnügen. Europa gebar ihm drei Söhne von unterschiedlicher Qualität. Einen von ihnen hat Michelangelo auf seinem imposanten, vatikanischen Wandgemälde über das Jüngste Gericht zum Teufel geschickt.
So weit die mythologischen Fakten. Sie werfen Fragen auf und rücken unseren Kontinent in ein ungutes Licht. Als Namensgeberin eines wertkonservativen, sich christlich oder jüdisch-christlich verstehenden Abendlandes taugt die junge Dame offenkundig nicht, ist sie doch eine Erscheinungsweise der babylonisch-syrischen Liebesgöttin Ischtar bzw. Astarte, also eine morgenländische Polytheistin und Polygamistin. Auch erscheint ihr Verhältnis zu Zeus als bedenklich, ist sie doch Opfer eines Menschenraubes und einer sexuellen Überwältigung. Zwar soll es Deutungen geben, wonach sie die Symbolgestalt eines antiken Matriarchats ist, aber das habe ich nicht wirklich verstanden. Für mich zeigt sich in ihrer Sage eher eine ziemlich ungehemmte Männergewalt.
Was tun? Mir scheint, dass Europa als Namenspatronin ausgedient hat. Deshalb fordere ich den Deutschen Kulturrat ultimativ auf, unverzüglich einen breiten, kontinentalweiten Beteiligungsprozess mit dem Ziel einer Umbenennung zu initiieren. Ein mittlerer sechsstelliger Millionenbetrag müsste dafür in den EU-Haushalt eingestellt werden. Und all die verehrten Intellektuellen und Kulturschaffenden, die jeden zweiten Tag irgendeinen offenen Brief für oder gegen dieses oder jenes unterschreiben, sollten sofort eine entsprechende Petition aufsetzen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.