Freiraum für Kultur

Die Vila Sul in Brasilien

 

Eine weitere Besonderheit der Vila Sul ist, dass man sich für das Stipendium nicht bewerben kann. Man muss nominiert werden. Welche Vorteile bringt dieses Nominierungsverfahren mit sich?
Das ist unter anderem praktischen Tatsachen geschuldet. Wir möchten internationale Gäste haben, dafür müssten wir einen weltweiten Call machen. Daraus würde eine sehr große Flut an Bewerbungen folgen. Hinzu kommt die thematische Spezifizierung vor Ort. Durch das Nominierungsverfahren ist die Qualität der Bewerbungen, das künstlerische Niveau und die thematische Passgenauigkeit von vornherein sehr hoch. Wir haben nie das Gefühl, dass die Menschen, die nominiert werden, sich nicht vorher genau Gedanken gemacht haben, warum sie gerade nach Salvador kommen wollen. Die Vila Sul ist nicht der richtige Ort für einen Autor, der seinen Roman über Norwegen fertig schreiben möchte. Das ist nicht unser Ziel.
Die Endauswahl wird von einer Jury getroffen. Ganz wichtig ist, dass in der Jury auch lokale Persönlichkeiten aus Bahia beteiligt sind, die natürlich einen ganz anderen Blick auf die Bewerbungen haben als die Jury aus Deutschland oder die Kolleginnen und Kollegen aus dem Goethe-Institut.

 

Nominieren dürfen die Goethe-Institute und ihre Partner. Inwieweit bewegt man sich so im immer gleichen Zirkel?
Jedes System hat Vor- und Nachteile. Die Villa Kamogawa, das Residenzprogramm des Goethe-Instituts in Japan, z. B. macht einen öffentlichen Call und hat somit eine sehr große Flut an Bewerbungen. Jede Künstlerin, jeder Künstler hat seine Berechtigung, aber die Qualität der Bewerbungen ist bei dem öffentlichen Call sehr breitgefächert. Das wollten wir gern vermeiden. Natürlich erreichen uns auch Stimmen, die es bedauern, dass es kein öffentliches Verfahren gibt. Aber bisher fahren wir damit ganz gut. Die Vorteile des Systems wiegen für uns die Nachteile auf.

 

Im Februar fand der weltberühmte brasilianische Karneval statt, der in diesem Jahr einer riesigen Demonstration gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro glich. Auch seine aktuelle Politik in der Corona-Krise erntet in der Bevölkerung viel Kritik. Inwieweit hat sein Amtsantritt 2019 Einfluss auf die Arbeit an der Vila Sul?
Noch vor den Wahlen wurden Kultur bzw. Künstlerinnen und Künstler als Spielball benutzt, um polemische Agitation zu erreichen. Es gab ganz gezielte Angriffe gegen Künstlerinnen und Künstler; in dem Zuge auch Angriffe gegen das Goethe-Institut in Salvador. Wir hatten Performances und Veranstaltungen, wo Nacktheit auf der Bühne zu sehen war oder eine transsexuelle Schauspielerin mitwirkte. Es gab eine Ausstellung zu Gewalt gegen queere Personen. Da wurden wir heftig angegriffen – im Internet und direkt vor dem Gebäude. Auch bei dem Ministério Público, das ist eine Art Staatsanwaltschaft, gab es eine Beschwerde gegen uns.
Die Kultur war schon unter Dilma Rousseff in der Krise, weil es kaum noch Gelder für sie gab. Wir haben finanzielle Mittel, daher konnte sehr viel hier im Goethe-Institut und in der Vila Sul stattfinden. Deswegen standen wir im Fokus als der Raum, der die Kunstfreiheit garantieren konnte.
Mittlerweile werden wir wieder in Ruhe gelassen. Der Grund ist, dass die jetzige Regierung es nicht mehr nötig hat, Veranstaltungen anzugreifen. Sie drehen einfach den Geldhahn weiter zu. Z. B. bekommt das brasilianische Kino-Board Ancine weniger Geld und wird stärker kontrolliert. Es wurden Programme gekürzt und die Förderungen umgeleitet, sodass kritische Künstlerinnen und Künstler nicht mehr zum Zuge kommen. Das heißt, es ist schwerer geworden, hier als Künstlerin oder Künstler zu arbeiten. Dagegen gibt es Widerstand, aber nicht so vehement, wie das wahrscheinlich in Deutschland der Fall wäre. Wir als Goethe-Institut können zurzeit wieder freier arbeiten als vor den Wahlen, weil wir unsere Mittel aus Deutschland beziehen. Somit sind wir immer noch ein Ort, an dem viele Künstlerinnen und Künstler gern arbeiten und ihre Projekte realisieren. Unser Problem ist eher, dass wir der Nachfrage nicht mehr Herr werden können. Aber wir können z. B. unsere Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung stellen. Wir können versuchen, Kooperationen mit den Kulturschaffenden in Residenz zu ermöglichen. Aber wir können das kaum alles auffangen. Sie müssen auch sehen, dass der Bundesstaat Bahia von der Partido dos Trabalhadores (PT), der Arbeiterpartei, geführt wird. Die föderale Regierung mischt sich bei uns in Bahia nicht so stark ein. In Rio de Janeiro, wo Bürgermeister und Gouverneur sehr, sehr konservativ sind, ist es wesentlich härter. Das Bundesland Bahia sieht sich auch als Widerstand gegen Bolsonaro.

 

Das heißt, besonders unter Bolsonaro halten Sie im Goethe-Institut und der Vila Sul die Brückenfunktion der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands aufrecht?
Der Außenminister Heiko Maas war im April 2019 in Brasilien, auch in Salvador am Goethe-Institut. Er hat hier das Frauennetzwerk »Unidas« zwischen Deutschland, Lateinamerika und der Karibik gegründet. Die Schauspielerin Sibel Kekilli, die hier vor Kurzem eine Residenz hatte und leider aufgrund der Corona-Krise frühzeitig abreisen musste, ist Botschafterin. Bestreben des Netzwerkes ist es, Gewalt gegen Frauen einzudämmen und zu verhindern.
Wir werden als Schutz- und Freiraum gebraucht. Zurzeit sind wir eine der letzten Institutionen in Salvador, die internationale Gäste einladen kann. Das heißt, internationale Diskurse werden von uns in die Stadt und Gesellschaft hineingetragen. Was wirklich unheimlich viel Freude macht, ist, dass wir Gäste auch aus afrikanischen Ländern einladen dürfen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Und gerade diese Gäste werden von den Aktivistinnen und Aktivisten mit Neugier und Begeisterung aufgenommen. Wir sind hier ein Ort, der Kunstfreiheit und Austausch ermöglicht.
Unsere Arbeit bringt auch nachhaltige Erfolge für die lokale Szene. Z. B. ist eine Tanz-Choreografie-Kooperation entstanden. Der Choreograf Ben J. Riepe aus Düsseldorf war zuerst Resident, dann haben wir eine Koproduktionsmittel-Beantragung bewilligt bekommen. Dafür wurden vier Tänzerinnen und Tänzer aus der Peripherie engagiert. Jetzt sind zwei von ihnen an der Folkwang Universität der Künste in Essen und machen dort ihre Tanzausbildung. Das ist wirklich ein ganz toller nachhaltiger Effekt unserer Residenzarbeit.

 

Vielen Dank.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Manfred Stoffl und Theresa Brüheim
Manfred Stoffl leitet das Goethe-Institut Salvador-Bahia und die Vila Sul. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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