„Deutschland und Japan haben ähnliche Mantras des Fleißes“

Die deutsch-japanischen Beziehungen an der Villa Kamogawa

Direkt am Fluss Kamo in der früheren japanischen Hauptstadt Kyoto auf der Insel Honshū befindet sich die Villa Kamogawa. Diese Einrichtung des Goethe-Instituts bietet Künstlern und Kulturschaffenden mit Wohnsitz in Deutschland eine dreimonatige Residenz in „Far East“ und damit verbunden einen Perspektivwechsel auf heimische europäische Debatten. Seit einem knappen halben Jahr leitet Enzio Wetzel die Villa Kamogawa. Theresa Brüheim spricht mit ihm über die Bedeutung des Residenzprogrammes für die deutsch-japanischen Beziehungen.

 

Theresa Brüheim: 2011 wurde die Villa Kamogawa anlässlich des 150. Jubiläums der deutsch-japanischen Beziehungen eröffnet. Was macht diese aus?
Enzio Wetzel: Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, die man Japanern und Deutschen nachsagt: Sie sind sehr eifrig bei der Arbeit, kennen sich technisch gut aus, erfinden viel und gern. Auch wenn wir Deutschen mittlerweile auf verlorenem Posten stehen, was Erfindungen anbelangt. Nichtsdestotrotz wird diese konstruierte Ähnlichkeit von beiden Seiten weiterhin gepflegt. Man hat sozusagen ähnliche Mantras des Fleißes und der Arbeitsorientierung.
Es gibt darüber hinaus viele Prozesse, die die postindustriellen Gesellschaften in Westeuropa und Japan gleichermaßen durchlaufen und denen sie begegnen müssen – wie z. B. der Überfluss, eine starke Zunahme von Nationalismus, die alternde Gesellschaft. Das Mantra der Überalterung ist in Japan noch viel stärker präsent als in Europa. Wer zahlt in die Rentenkasse? Wohin mit den ganzen alten Leuten? Sterben Japanerinnen und Japaner irgendwann aus? Allerdings gibt es hier viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Man versucht, die Herausforderungen technisch anzugehen und zu lösen, z. B. Roboter für die Pflege einzusetzen. Historisch reicht die deutsch-japanische Verbindung weit zurück. Die erste moderne Verfassung Japans hat die preußische Verfassung zum Vorbild. Zur Zeit des Dritten Reiches pflegte man eine Art Waffenbrüderschaft. Aus politischen und strategischen Gründen wollte man Verstärkung im Fernen Osten haben, um die „Feinde“ in der Mitte in die Zange zu nehmen. Beide verbindet auch die totale Niederlage, und beiden Ländern gelang ein rascher Wiederaufbau nach dem Krieg, gefolgt von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung. Jetzt finden sich beide wieder in einem Tal der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ermüdung.

 

Welchen konkreten Beitrag leistet die Villa Kamogawa für die deutsch-japanischen Beziehungen?
Die Villa Kamogawa ist eine Art Sprungbrett oder erst einmal eine Plattform für Künstlerinnen und Künstler mit Wohnsitz in Deutschland, die Japan tiefer kennenlernen wollen, als es möglich wäre, wenn sie z. B. zu einem Festival eingeladen wären oder eine Koproduktion mit einem japanischen Partner realisieren würden. Man kann völlig andere Perspektiven erfahren und für drei Monate ein ziemlich anderes Setting erleben. Wir bieten Künstlerinnen, Kulturtheoretikern, Philosophinnen, Ethnologen und anderen aus Deutschland ein tiefes Atemholen ohne Produktionsdruck. Dadurch
dass sich diese Plattform in Japan, in Kyoto befindet, sind Irritationen, Überraschungen, Herausforderungen zu erwarten – für beide Seiten. Die Villa lädt die – japanischen – Nachbarn, Cafébesucherinnen, Studierenden und Kulturschaffenden ein, aus dem japanisch-traditionellen Kyoto mit seinen über tausend Tempeln und Weltkulturerbestätten an den Hängen der Berge herauszukommen und zeitgenössische Kunst, Gedanken und Verhaltensweisen aus Deutschland und Europa zu erleben – und zwar nicht in Form einer Ausstellung, sondern weil sie live auf die Stipendiatinnen und Stipendiaten treffen. Die Villa Kamogawa ist ein Kulminationspunkt, an dem sich Europa und Japan begegnen, wo aber ebenso auch alltägliche Unterschiede sichtbar werden. Unter der Oberfläche des künstlerischen wie auch des wissenschaftlichen Austauschs, der jeder für sich gewissen internationalen Regeln oder Usancen folgt, liegen erhebliche Unterschiede in der Arbeitsweise und dem Umgang miteinander. So ist es immer auch eine Art Selbstvergewisserung und Selbstinfragestellung des europäischen Blicks. Z. B. untersucht gerade Luise Donschen botanische Gärten in Kyoto. Sie schaut, wie japanische Gärtner einen „europäischen Garten“ auffassen. Sie trifft sozusagen auf das Europabild in Japan. Der berühmte Murin-an in Kyoto – „a Japanese garden masterpiece“ – wurde von einem japanischen Politiker angelegt, nachdem er in Berlin und London europäische Gärten zu schätzen gelernt hatte.

Enzio Wetzel und Theresa Brüheim
Enzio Wetzel ist Institutsleiter des Goethe-Instituts Osaka Kyoto und der Villa Kamogawa. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
Vorheriger ArtikelBrückenbauer am Bosporus
Nächster ArtikelFreiraum für Kultur