Manfred Stoffl und Theresa Brüheim - 5. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Auswärtige Kultur- & Bildungspolitik (AKBP)

Freiraum für Kultur


Die Vila Sul in Brasilien

Im November 2016 hat das Residenzhaus „Vila Sul“ des Goethe-Instituts im brasilianischen Salvador seine Türen für Wissenschaftlerinnen und Künstler aus Deutschland sowie dem globalen Süden geöffnet. Insgesamt 16 Residentinnen und Residenten – vier für je zwei Monate – arbeiten pro Jahr am Nord-Süd- bzw. Süd-Süd-Dialog. Manfred Stoffl leitet seit Beginn das Programm. Theresa Brüheim spricht mit ihm über die Besonderheiten der Residenz, die Geschichte Salvadors und die Situation der Kultur unter Präsident Jair Bolsonaro.

 

Theresa Brüheim: Herr Stoffl, die Vila Sul ist das jüngste Residenzhaus des Goethe-Instituts. Was unterscheidet es weiterhin von den anderen Residenzprogrammen des Goethe-Instituts wie Tarabya in der Türkei oder der Villa Kamogawa in Japan?
Manfred Stoffl: Der größte Unterschied ist, dass wir seit Beginn der Residenzarbeit einen eindeutigen thematischen Fokus haben. Die Künstlerinnen und Wissenschaftler, die zu uns kommen, sollen sich mit Fragen des globalen Südens beschäftigen. In der Vila Sul geht es um den Süd-Süd- und auch um den Süd-Nord-Austausch. Ein Novum ist, dass von den 16 Gästen, die wir pro Jahr empfangen, nur die Hälfte in Deutschland lebt. Sie brauchen keinen deutschen Pass, aber sie sollen in Deutschland leben. Die andere Hälfte der Gäste kommt verstärkt aus dem globalen Süden. In der Regel kommen von den acht nicht in Deutschland lebenden Gästen vier aus afrikanischen Ländern, zwei aus südamerikanischen Ländern und zwei aus Nordamerika – vornehmlich aus Kanada. Das ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal.

 

Auf welcher Idee beruht dieser für die Kulturakademien des Goethe-Instituts neuartige Ansatz, nicht nur deutschen Kulturschaffenden eine Residenz zu bieten, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Künstlern aus dem globalen Süden?
Wir leben in einer Welt, die sich ständig verändert. Der klassische Ansatz der „Zweibahnstraße“, das heißt der bilaterale Austausch zwischen Deutschland und Brasilien, ist für die heutigen Herausforderungen nicht mehr das probate Mittel. Wir müssen die Fragen des globalen Südens ernst nehmen, die entsprechenden Akteure zur Diskussion einladen und im globalen Süden zusammenbringen.

 

Mit der Vila Sul wurde eben dieser physische Raum für den Nord-Süd- bzw. Süd-Süd-Dialog geschaffen. Was kennzeichnet diesen Dialog?
Erst mal ist die Vila Sul ein sehr offener Raum. Wir haben hier schon allein physisch tolle Möglichkeiten: Es gibt vier Appartements für unsere Gäste mit einem Gemeinschaftsraum. Sie können sich getrennt aufhalten, aber es gibt auch einen Ort, um sich zu treffen. Darüber haben wir ein großes Theater mit 120 Plätzen, zwei Galerien, einen Innenhof mit einer Bühne und eine Bibliothek mit einer weiteren Bühne. Es gibt hier sehr viel Gestaltungsraum.
Bis vor Kurzem hatten wir Gäste aus Deutschland und Südafrika. Leider mussten sie aufgrund der Corona-Pandemie frühzeitig abreisen. Die nächste Gruppe sollte aus Angola, Burkina Faso, Kanada und Deutschland kommen, konnte aber in der aktuellen Situation nicht anreisen. Da ist bedauerlich, aber wir machen nun mit allen digitale Residenzen und Veranstaltungen. Genau eine solche internationale Mischung an Residentinnen und Residenten ist unser Ziel. Wir versuchen darüber hinaus sehr stark, die Einbindung in die lokale Szene vorzunehmen. Das heißt, dass unsere internationalen Gäste sich mit brasilianischen Kulturschaffenden austauschen und in der Regel auch Projekte gemeinsam realisieren können.

 

Wie erreichen Sie die Kulturschaffenden in Salvador im Normalbetrieb? Wie findet der Austausch in der Praxis statt?
Das ist sehr individuell. Bevor Gäste zu uns kommen, haben sie uns einen Vorschlag für ihre Arbeit hier geschickt. Nach Ankunft folgt das Erstgespräch. Dabei prüfen wir, ob das Thema noch aktuell ist oder ob andere Themen ins Spiel gebracht werden sollten. Wenn z. B. eine bildende Künstlerin hier ist, schlagen wir vor, bestimmte Orte in der Stadt zu besuchen oder diese Künstlerin bzw. jenen Künstler zu treffen. Aus diesen Erstkontakten, die wir herstellen, ergeben sich meistens weiterführende Ideen und gemeinsame Projekte. Das müssen wir so angehen, denn natürlich ist die Sprachbarriere da. Die Menschen, auch die Künstlerinnen und Künstler, in Salvador sprechen wenig Englisch. Deswegen sind wir sehr stark gefordert, den Dialog praktisch anzuleiten und zu übersetzen.

 

Welche Themen werden momentan an der Vila Sul verhandelt bzw. bearbeitet?
Das sind immer noch ganz stark die Themen, mit denen wir angetreten sind: Kolonialismus und Dekolonisierung. Hier ist die Aufarbeitung der Sklavengeschichte sehr dominant und wichtig. Salvador ist eine Stadt, über die viele Sklaven nach Amerika eingeführt wurden. Damit verbunden ist die Problematik des Rassismus. Der herrscht immer noch vor. Wiederum verknüpft sind Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung. Wir merken, dass diese Themen für die Menschen hier virulent sind, und auch für die Gäste – egal, woher sie kommen, und auch wenn die Perspektive auf diese Fragen eine andere ist.

 

Salvador wird immer wieder als Knotenpunkt des Süd-Süd-Dialogs bezeichnet. Inwieweit liegt das in der erwähnten Stadtgeschichte begründet?
Die Stadt mit ihrer Geschichte ist wahnsinnig wichtig für Menschen, die sich mit Kolonialismus und Kolonisierung beschäftigen, da sehr viele Sklaven aus afrikanischen Ländern über Salvador eingeschifft wurden. Auch heute noch ist Salvador, wie man sagt, die schwärzeste Stadt außerhalb Afrikas. Mindestens 80 Prozent – manche sprechen von fast 90 Prozent – der Bevölkerung bezeichnen sich hier als schwarz bzw. als nicht weiße Menschen, denn in Brasilien werden Hautfarben viel differenzierter bezeichnet als in Deutschland. Und natürlich sind hier Themen wie Ungleichheit, Benachteiligung und Rassismus immer noch sehr virulent. Auf diese Welt trifft stark eine zweite: Es gibt immer noch eine koloniale Gesellschaft, eine weiße Elite, die Einfluss hat und teilweise in kolonialen Strukturen lebt. Dadurch verstärken sich die Spannungen.

 

Eine weitere Besonderheit der Vila Sul ist, dass man sich für das Stipendium nicht bewerben kann. Man muss nominiert werden. Welche Vorteile bringt dieses Nominierungsverfahren mit sich?
Das ist unter anderem praktischen Tatsachen geschuldet. Wir möchten internationale Gäste haben, dafür müssten wir einen weltweiten Call machen. Daraus würde eine sehr große Flut an Bewerbungen folgen. Hinzu kommt die thematische Spezifizierung vor Ort. Durch das Nominierungsverfahren ist die Qualität der Bewerbungen, das künstlerische Niveau und die thematische Passgenauigkeit von vornherein sehr hoch. Wir haben nie das Gefühl, dass die Menschen, die nominiert werden, sich nicht vorher genau Gedanken gemacht haben, warum sie gerade nach Salvador kommen wollen. Die Vila Sul ist nicht der richtige Ort für einen Autor, der seinen Roman über Norwegen fertig schreiben möchte. Das ist nicht unser Ziel.
Die Endauswahl wird von einer Jury getroffen. Ganz wichtig ist, dass in der Jury auch lokale Persönlichkeiten aus Bahia beteiligt sind, die natürlich einen ganz anderen Blick auf die Bewerbungen haben als die Jury aus Deutschland oder die Kolleginnen und Kollegen aus dem Goethe-Institut.

 

Nominieren dürfen die Goethe-Institute und ihre Partner. Inwieweit bewegt man sich so im immer gleichen Zirkel?
Jedes System hat Vor- und Nachteile. Die Villa Kamogawa, das Residenzprogramm des Goethe-Instituts in Japan, z. B. macht einen öffentlichen Call und hat somit eine sehr große Flut an Bewerbungen. Jede Künstlerin, jeder Künstler hat seine Berechtigung, aber die Qualität der Bewerbungen ist bei dem öffentlichen Call sehr breitgefächert. Das wollten wir gern vermeiden. Natürlich erreichen uns auch Stimmen, die es bedauern, dass es kein öffentliches Verfahren gibt. Aber bisher fahren wir damit ganz gut. Die Vorteile des Systems wiegen für uns die Nachteile auf.

 

Im Februar fand der weltberühmte brasilianische Karneval statt, der in diesem Jahr einer riesigen Demonstration gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro glich. Auch seine aktuelle Politik in der Corona-Krise erntet in der Bevölkerung viel Kritik. Inwieweit hat sein Amtsantritt 2019 Einfluss auf die Arbeit an der Vila Sul?
Noch vor den Wahlen wurden Kultur bzw. Künstlerinnen und Künstler als Spielball benutzt, um polemische Agitation zu erreichen. Es gab ganz gezielte Angriffe gegen Künstlerinnen und Künstler; in dem Zuge auch Angriffe gegen das Goethe-Institut in Salvador. Wir hatten Performances und Veranstaltungen, wo Nacktheit auf der Bühne zu sehen war oder eine transsexuelle Schauspielerin mitwirkte. Es gab eine Ausstellung zu Gewalt gegen queere Personen. Da wurden wir heftig angegriffen – im Internet und direkt vor dem Gebäude. Auch bei dem Ministério Público, das ist eine Art Staatsanwaltschaft, gab es eine Beschwerde gegen uns.
Die Kultur war schon unter Dilma Rousseff in der Krise, weil es kaum noch Gelder für sie gab. Wir haben finanzielle Mittel, daher konnte sehr viel hier im Goethe-Institut und in der Vila Sul stattfinden. Deswegen standen wir im Fokus als der Raum, der die Kunstfreiheit garantieren konnte.
Mittlerweile werden wir wieder in Ruhe gelassen. Der Grund ist, dass die jetzige Regierung es nicht mehr nötig hat, Veranstaltungen anzugreifen. Sie drehen einfach den Geldhahn weiter zu. Z. B. bekommt das brasilianische Kino-Board Ancine weniger Geld und wird stärker kontrolliert. Es wurden Programme gekürzt und die Förderungen umgeleitet, sodass kritische Künstlerinnen und Künstler nicht mehr zum Zuge kommen. Das heißt, es ist schwerer geworden, hier als Künstlerin oder Künstler zu arbeiten. Dagegen gibt es Widerstand, aber nicht so vehement, wie das wahrscheinlich in Deutschland der Fall wäre. Wir als Goethe-Institut können zurzeit wieder freier arbeiten als vor den Wahlen, weil wir unsere Mittel aus Deutschland beziehen. Somit sind wir immer noch ein Ort, an dem viele Künstlerinnen und Künstler gern arbeiten und ihre Projekte realisieren. Unser Problem ist eher, dass wir der Nachfrage nicht mehr Herr werden können. Aber wir können z. B. unsere Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung stellen. Wir können versuchen, Kooperationen mit den Kulturschaffenden in Residenz zu ermöglichen. Aber wir können das kaum alles auffangen. Sie müssen auch sehen, dass der Bundesstaat Bahia von der Partido dos Trabalhadores (PT), der Arbeiterpartei, geführt wird. Die föderale Regierung mischt sich bei uns in Bahia nicht so stark ein. In Rio de Janeiro, wo Bürgermeister und Gouverneur sehr, sehr konservativ sind, ist es wesentlich härter. Das Bundesland Bahia sieht sich auch als Widerstand gegen Bolsonaro.

 

Das heißt, besonders unter Bolsonaro halten Sie im Goethe-Institut und der Vila Sul die Brückenfunktion der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands aufrecht?
Der Außenminister Heiko Maas war im April 2019 in Brasilien, auch in Salvador am Goethe-Institut. Er hat hier das Frauennetzwerk »Unidas« zwischen Deutschland, Lateinamerika und der Karibik gegründet. Die Schauspielerin Sibel Kekilli, die hier vor Kurzem eine Residenz hatte und leider aufgrund der Corona-Krise frühzeitig abreisen musste, ist Botschafterin. Bestreben des Netzwerkes ist es, Gewalt gegen Frauen einzudämmen und zu verhindern.
Wir werden als Schutz- und Freiraum gebraucht. Zurzeit sind wir eine der letzten Institutionen in Salvador, die internationale Gäste einladen kann. Das heißt, internationale Diskurse werden von uns in die Stadt und Gesellschaft hineingetragen. Was wirklich unheimlich viel Freude macht, ist, dass wir Gäste auch aus afrikanischen Ländern einladen dürfen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Und gerade diese Gäste werden von den Aktivistinnen und Aktivisten mit Neugier und Begeisterung aufgenommen. Wir sind hier ein Ort, der Kunstfreiheit und Austausch ermöglicht.
Unsere Arbeit bringt auch nachhaltige Erfolge für die lokale Szene. Z. B. ist eine Tanz-Choreografie-Kooperation entstanden. Der Choreograf Ben J. Riepe aus Düsseldorf war zuerst Resident, dann haben wir eine Koproduktionsmittel-Beantragung bewilligt bekommen. Dafür wurden vier Tänzerinnen und Tänzer aus der Peripherie engagiert. Jetzt sind zwei von ihnen an der Folkwang Universität der Künste in Essen und machen dort ihre Tanzausbildung. Das ist wirklich ein ganz toller nachhaltiger Effekt unserer Residenzarbeit.

 

Vielen Dank.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/europa-internationales/auswaertige-kultur-bildungspolitik-akbp/freiraum-fuer-kultur/