Brückenbauer am Bosporus

Deutsch-türkischer Kulturaustausch im Jahr 2020

 

Verzeichnen Sie dennoch in den Jahren seit dem Putsch 2016 zurückgehende Bewerberzahlen? Oder sind diese gleichgeblieben?
Entenmann: Wir haben das Verfahren für die Vergabe von Stipendien im Jahr 2017 umgestellt – von Nominierung auf Bewerbung. Die Umstellung war von Akademiegründung an geplant – fiel dann aber auf ein Jahr, in dem die politische Situation in der Türkei wie auch die bilateralen Beziehungen besonders angespannt waren. Wir hatten uns in diesem Moment ernsthafte Gedanken gemacht, ob wir ausreichend qualifizierte Bewerbungen bekommen würden. Dennoch hat ein mögliches Stipendium an der Kulturakademie Tarabya seinerzeit insgesamt rund 300 Künstlerinnen und Künstler motiviert, ihre Bewerbung einzureichen – und das bei nur etwa 20 Plätzen, die wir jährlich vergeben. Auch 2018 und 2019 hatten wir ähnlich viele Bewerbungen, die sich übrigens mit denen von etablierten Residenzprogrammen wie der Villa Kamogawa in Japan vergleichen lassen.

 

Jährlich ermöglichen Sie rund 20 Stipendiatinnen und Stipendiaten einen Aufenthalt in der Kulturakademie Tarabya. Wie sieht dieser aus?
Laufer: Seitdem wir 2017 auf ein Bewerbungsverfahren umgestellt haben, bleiben die Stipendiatinnen und Stipendiaten in der Regel vier oder acht Monate in Tarabya. Eine Verlängerung – zu einem späteren Zeitpunkt – ist laut Statut der Kulturakademie auf bis zu zehn Monaten insgesamt möglich. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten wohnen in der Zeit auf dem Gelände der historischen Sommerresidenz des Deutschen Botschafters in Tarabya. Ein malerisches, 20 Hektar großes Anwesen mit mehreren weißen Holzvillen – eine davon die Kulturakademie – und einem großen Park. Ein Ort der Ruhe und Abgeschiedenheit in der Millionenmetropole Istanbul. Sie erhalten ein monatliches Stipendium in Höhe von 2.500 Euro und werden von unserem Team der Kulturakademie im Alltag vor Ort in Tarabya unterstützt. Abhängig von Art der Arbeit und Arbeitsstil verbringen die unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstler mehr oder weniger Zeit auf dem Gelände – und entsprechend mehr oder weniger Zeit in der Stadt oder im Land selbst. Es besteht keine Produktionspflicht. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten müssen lediglich sicherstellen, dass sie etwa 90 Prozent der Stipendiendauer vor Ort sind, also nicht außerhalb der Türkei, denn sie sollen dieses außergewöhnliche Land ja auf eine besondere Art kennenlernen.

 

Wie werden die Stipendiatinnen und Stipendiaten ausgewählt? Was sind die Kriterien?
Entenmann: Die Auswahl erfolgt in einem fünfstufigen Verfahren: Zuerst sichtet das Goethe-Institut Istanbul die Bewerbungen nach formalen Kriterien. So dürfen sich z. B. ausschließlich in Deutschland lebende Künstlerinnen und Künstler auf das Stipendium bewerben. Anschließend bewerten deutsche und türkische Fachberaterinnen und -berater in allen Sparten die Bewerbungen in ihrer jeweiligen Disziplin und vergeben Punkte. Kriterien sind die künstlerische Qualität und Ästhetik des vorliegenden Portfolios, die Relevanz und der Innovationscharakter in der zeitgenössischen Kulturszene Deutschlands, aber auch das interkulturelle Potenzial des Werks bezogen auf die Türkei und die Motivation der Künstlerin oder des Künstlers, nach Istanbul zu kommen. Das Urteil der Expertinnen und Experten ist für die fünfköpfige Jury – neben dem Beirat der Kulturakademie unser wichtigstes Entscheidungsgremium – nicht bindend, dient dieser aber als Orientierung und Hilfestellung bei der Sichtung der vielen Bewerbungen. Die Jury empfiehlt ihre Auswahl an Stipendiatinnen und Stipendiaten schließlich dem Stipendienausschuss, bestehend aus der Juryvorsitzenden Feo Aladag, der Beiratsvorsitzenden Staatsministerin Michelle Müntefering und uns als Leitung der Kulturakademie Tarabya.

 

Was planen Sie in Zukunft für die Kulturakademie Tarabya?
Entenmann: Für die Zukunft liegt ein Fokus auf Alumni-Arbeit. Neben in den letzten Jahren eingeführten Formaten wie einem Alumni-Newsletter, Alumni-Treffen und der Einbeziehung von Alumni in Veranstaltungen haben wir gerade erstmals ein Fonds für ehemalige Stipendiatinnen und Stipendiaten der Kulturakademie Tarabya eingerichtet. Ziel des Fonds ist die Förderung nachhaltiger Beziehungen zur Türkei sowie neuer kollaborativer Arbeitsprozesse und innovativer Produktionen im deutsch-türkischen Kulturaustausch. Der Fonds bietet den inzwischen über 90 Alumni die Möglichkeit, sich zweimal jährlich auf maßgenaue Förderlinien zu bewerben: auf Recherchereisen, Übersetzungsförderung und (Ko-)Produktionsförderung. Vor einem Jahr haben wir zudem eine Auswahl von in Tarabya entstandenen künstlerischen Positionen erstmals auch in Berlin bei einer großen Werkschau im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – präsentiert und planen auch künftig immer wieder Formate in Deutschland.
Laufer: Wichtig ist uns, dass wir die Kulturakademie Tarabya immer mehr als eigene Institution und Marke aufbauen. Wir haben das in den letzten Jahren – vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit – angestoßen und müssen das stetig weiter vorantreiben. Ziel ist und bleibt es – so wie es der Deutsche Bundestag seinerzeit vorgesehen hatte –, kulturelle Brücken zu bauen, die die deutsch-türkischen Beziehungen im Bereich Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur weiter mit Leben füllen und somit stärker und robuster machen. Wenn es uns gelingt, die Güte und Menge der jährlichen Bewerbungen auf aktuellem Niveau zu verstetigen, sehe ich uns auf einem guten Weg.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Pia Entenmann, Meik Clemens Laufer und Theresa Brüheim
Pia Entenmann trägt die Kuratorische Verantwortung für die Kulturakademie Tarabya. Meik Clemens Laufer ist Leiter der Kulturakademie Tarabya. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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