Totales Chaos

Die Situation der ethnologischen Museen in Deutschland

Seit vor zwei Jahren die Debatte um den Umgang mit Raubkunst aus den ehemaligen Kolonien, besonders aus Afrika, begann, hört man ein Argument gegen Restitutionen immer wieder: Die Objekte seien in deutschen Museen am besten aufgehoben, da die Herkunftsländer nicht in der Lage seien, sie sachgemäß zu bewahren.

 

Blickt man aber hinter die Kulissen der deutschen ethnologischen Museen, dem Stuttgarter Linden-Museum, dem Hamburger Museum am Rothenbaum oder dem Museum Fünf Kontinente in München, dann erweist sich deren Vorbildlichkeit als Illusion: Über Jahrzehnte ausgehungert durch die Politik, schlecht besucht und nach innen gewandt, haben sich in den Museen gewaltige Defizite angehäuft.

 

Am eklatantesten sind sie am Ethnologischen Museum in Berlin. Bei starkem Regen sammelt sich dort im Erdgeschoss das Wasser. Es drückt von unten in das baufällige Gebäude und dringt durch die Ritzen der Fassade. Eine „Teilsanierung“ ist geplant, auch der Vorschlag, den Komplex zum „Forschungscampus“ umzubauen steht im Raum, doch ob der realisiert wird, ist offen. Bis dahin werden die knapp 500.000 Objekte des Museums weiter unter diesen Bedingungen gelagert.

 

Doch das ist nicht das einzige Problem. Ein anderes sind die Insekten, die an den großteils aus Leder, Fell, Federn oder Holz gefertigten Objekten enorme Schäden anrichten. Die rund 10.000 Stücke, die in den nächsten Monaten ins Humboldt Forum umziehen, werden zuvor mit Stickstoff „entwest“. Doch alle anderen bleiben weiterhin kaum geschützt vor dem Insektenfraß. Andreas Schlothauer, der Herausgeber der Ethnologie-Zeitschrift Kunst & Kontext, wies schon 2015 in einem offenen Brief darauf hin, dass „die Zustände in den Depots die Objekte beschädigen“. Auch der Museumsforscher Dirk Heisig beklagt den allmählichen Verfall der Objekte durch überfüllte Lager und unzureichende Konservierung. Er spricht von „passivem Entsammeln“.

 

Nachdem der Autor im Juli in der Süddeutschen Zeitung auf die Zustände hingewiesen hatte, äußerte sich nun Lars-Christian Koch, der Direktor des Berliner Museums. Ein „erheblicher Investitionsstau“ sei „unbestreitbar“, schrieb er. Teile der Gebäude seien in „keinem guten Zustand“.

 

Die baulichen und konservatorischen Defizite machen indes nur einen Teil der Probleme in den ethnologischen Museen aus. Der andere betrifft die Verwaltung der Sammlungen. Fragt man die Museumsleute nach der Zahl ihrer Objekte, erhält man gewundene Antworten. In Stuttgart etwa soll es laut Inventar 290.000 geben. In Wahrheit, so schätzt das Museum, seien es nur 160.000. In Hamburg liegt der „Sollbestand“ bei 265.000 Objekten, doch die Direktorin Barbara Plankensteiner vermutet, es seien nur noch 200.000. In München schätzt man den Bestand auf 160.000 Objekte. Eine Inventur, in den 1960er Jahren abgebrochen, hat man 2015 wieder aufgenommen. Das Ende ist nicht abzusehen. Der Hauptgrund für diese enormen Diskrepanzen sind die Verluste im Krieg. Doch obwohl der bereits 75 Jahre zurückliegt, haben viele Museen nicht die Zeit gefunden, die Inventare zu aktualisieren.

 

Doch es gibt auch den umgekehrten Fall: Werke, oft Schenkungen, die auch nach Jahrzehnten noch nicht in den Bestand aufgenommen wurden, wie ein großer Teil der 135.000 Fotos im Münchner Museum. Eine bekannte Kuratorin, die an Häusern im In- und Ausland gearbeitet hat, erklärt: „In deutschen Völkerkundemuseen herrscht totales Chaos. Ich bin sicher, mindestens 15 Prozent der Objekte sind nicht inventarisiert.“

 

Und dann gibt es die Stücke, die zwar im Inventar geführt sind, aber ihre Nummer verloren haben, oft ein kleines Schildchen, das ihnen angeklebt oder angehängt wurde. Objekt und Nummer wieder zuzuordnen, ist oft fast unmöglich. Allein in der Südseeabteilung in Stuttgart gibt es 500 solcher verwaisten Objekte. In der Mesoamerika-Abteilung in Berlin schätzt man ihre Zahl auf 1.000 von 50.000.

 

Am erstaunlichsten sind in diesem Zusammenhang wohl die 118 Kisten mit rund 2.000 Objekten, die im Berliner Depot gestapelt sind. Im Krieg waren 55.000 Objekte aus dem Berliner Völkerkundemuseum ausgelagert und dann von der Roten Armee mitgenommen worden. Erst 1992 kamen sie zurück. Die Kisten enthalten den Rest dieses Konvoluts. Niemand weiß, was sich in ihnen befindet.

 

Und schließlich gibt es Objekte, die man irgendwann von ihrem in den Inventaren notierten Platz an einen anderen geräumt hat, und die nun nicht mehr auffindbar sind. In Hamburg mit seinen vier Magazinen liegen Tausende solcher „nicht verstandorteter“ Objekte.

 

Doch selbst, wenn die Objekte inventarisiert sind, sind sie in Gefahr – durch das, was die Berliner Ethnologin Sharon Macdonald das „Vergessen durch Lagern“ nennt. Bei Sammlungen mit Hunderttausenden von Objekten verschwinde alles, was nicht ständig präsent gehalten werde, unweigerlich aus dem Bewusstsein der Kuratoren. Sie spricht auch von der „Amnesie des Depots“.

 

Diese Dynamik wird in vielen Museen durch veraltete Inventare verstärkt. Wurden die alten Karteikarten in digitale Datenbanken übertragen, dann oft, ohne sie zu aktualisieren und an heutige Standards anzupassen. Außer dem Jahr, einer groben Ortsangabe und einer knappen Beschreibung des Gegenstands gibt es oft keine Informationen. Was außerdem vielfach fehlt, sind Fotos. Für die Afrika-Datenbank des Linden-Museums etwa wurde bisher fast nichts fotografiert, von den Südsee-Objekten höchstens zehn Prozent. Ohne Abbildungen sind die Datenbanken nahezu wertlos.

 

Alle ethnologischen Museen versprechen jetzt, ihre Inventare online zu stellen. In der Tat würde das Forschern in den Herkunftsgesellschaften endlich erlauben, nach dem Besitz ihrer Vorfahren zu suchen; es würde auch die Provenienzforschung erheblich erleichtern. Doch dafür müssten die Datensätze erst vollständig überarbeitet werden, so Lars-Christian Koch, dessen Haus immerhin einen kleinen Teil der Sammlung online zeigt. Man muss Begriffe wie „Neger“ oder „Südwestafrika“ korrigieren, muss Fotos identifizieren, die Gewaltszenen zeigen, und Objekte, die nach dem Verständnis der Herkunftsgesellschaften nicht alle sehen dürfen.

Jörg Häntzschel
Jörg Häntzschel ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.
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