Totales Chaos

Die Situation der ethnologischen Museen in Deutschland

Obwohl es oft um Zehntausende Objekte geht, glaubt man in den deutschen Museen, die Kuratoren könnten diese Arbeit nebenbei erledigen. Wie illusorisch das ist, zeigt der Vergleich mit dem 1992 eröffneten Pariser Musée du quai Branly. Dort arbeiteten 70 Wissenschaftler sechs Jahre lang daran, alle 320.000 Objekte online zu stellen. Nur dank dieser Vorarbeit konnten Bénédicte Savoy und Felwine Sarr in ihrem Bericht für Präsident Emmanuel Macron detaillierte Empfehlungen für den Umgang mit einzelnen Objekten aus ehemaligen französischen Kolonien aussprechen.

 

Die Restitutionsdebatte setzt die Museen unter Druck, doch sie beschert ihnen auch eine Aufmerksamkeit, die sie jahrzehntelang entbehrten. Sogar im Koalitionsvertrag werden sie erwähnt: „Die Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen wollen wir fördern.“ Dennoch nützen sie dies kaum, um jetzt die notwendige finanzielle und personelle Unterstützung einzufordern. In der kürzlich veröffentlichten „Heidelberger Stellungnahme“ zum Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus versprechen die Direktoren der ethnologischen Museen „ein größtmögliches Maß an Transparenz“, ohne zuzugeben, dass ihnen oft selbst der Überblick über ihre Bestände fehlt. Sie werben für „kooperative Provenienzforschung als Standard“, ohne einzugestehen, dass Mittel fehlen und Vorarbeiten nicht gemacht sind. Nur hinter vorgehaltener Hand geben sie die Missstände zu und benennen die Gründe: mangelndes Personal, fehlendes Geld, kein Interesse bei den Trägern. Was zähle, seien immer nur Ausstellungen.

 

Eckart Köhne, der Präsident des Deutschen Museumsbunds, ist einer der wenigen, der die Probleme öffentlich benennt. Im „Leitfaden zum Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten“ fordert er, „die finanzielle und personelle Ausstattung der Museen“ müsse „dauerhaft und merklich verbessert werden“.

 

Was er nicht anspricht, ist aber die Wagenburgmentalität in vielen Häusern, die allen Bekenntnissen zu „Transparenz“ Hohn spricht. Besuche im Magazin erfordern langwierige Verhandlungen, wenn sie überhaupt möglich sind. Fotografieren ist verboten. Obwohl gesetzlich dazu verpflichtet, weigert sich das Museum Fünf Kontinente seinen Archivbestand an das Bayerische Staatsarchiv abzugeben. Auch das Berliner Ethnologische Museum behält entgegen der Vorschriften alle Archivalien im Haus.

 

Diese Unaufrichtigkeit, diese Neigung zu bloßer Symbolik ist in der gesamten Restitutionsdebatte zu beobachten. Statt Provenienzforschung wie bei NS-Raubkunst wäre die Aktualisierung und Zugänglichmachung der Inventare viel dringlicher. Statt die historische Aufarbeitung des Kolonialismus abgetrennt von der Frage nach der Herkunft der Objekte und möglicher Restitutionen zu behandeln, sollte man die beiden Komplexe als einen verstehen. Und so löblich Kooperationen mit Museen aus afrikanischen Ländern sind, so wenig ändern diese an der „Angst vor Kontrollverlust“, die die schon erwähnte Kuratorin den deutschen Häusern attestiert. Die Restitutionsdebatte sollte Anlass sein, auch über Selbstverständnis und Praxis der ethnologischen Museen zu diskutieren. In deren Zuge wäre dann auch zu klären, warum die Museen – und ihre Träger – Restitutionen bisher so skeptisch gegenüberstehen, obwohl ihnen doch offenbar wenig an den Objekten liegt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Jörg Häntzschel
Jörg Häntzschel ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.
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