Jörg Häntzschel - 2. September 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Humboldt Forum / Kolonialismus-Debatte

Totales Chaos


Die Situation der ethnologischen Museen in Deutschland

Seit vor zwei Jahren die Debatte um den Umgang mit Raubkunst aus den ehemaligen Kolonien, besonders aus Afrika, begann, hört man ein Argument gegen Restitutionen immer wieder: Die Objekte seien in deutschen Museen am besten aufgehoben, da die Herkunftsländer nicht in der Lage seien, sie sachgemäß zu bewahren.

 

Blickt man aber hinter die Kulissen der deutschen ethnologischen Museen, dem Stuttgarter Linden-Museum, dem Hamburger Museum am Rothenbaum oder dem Museum Fünf Kontinente in München, dann erweist sich deren Vorbildlichkeit als Illusion: Über Jahrzehnte ausgehungert durch die Politik, schlecht besucht und nach innen gewandt, haben sich in den Museen gewaltige Defizite angehäuft.

 

Am eklatantesten sind sie am Ethnologischen Museum in Berlin. Bei starkem Regen sammelt sich dort im Erdgeschoss das Wasser. Es drückt von unten in das baufällige Gebäude und dringt durch die Ritzen der Fassade. Eine „Teilsanierung“ ist geplant, auch der Vorschlag, den Komplex zum „Forschungscampus“ umzubauen steht im Raum, doch ob der realisiert wird, ist offen. Bis dahin werden die knapp 500.000 Objekte des Museums weiter unter diesen Bedingungen gelagert.

 

Doch das ist nicht das einzige Problem. Ein anderes sind die Insekten, die an den großteils aus Leder, Fell, Federn oder Holz gefertigten Objekten enorme Schäden anrichten. Die rund 10.000 Stücke, die in den nächsten Monaten ins Humboldt Forum umziehen, werden zuvor mit Stickstoff „entwest“. Doch alle anderen bleiben weiterhin kaum geschützt vor dem Insektenfraß. Andreas Schlothauer, der Herausgeber der Ethnologie-Zeitschrift Kunst & Kontext, wies schon 2015 in einem offenen Brief darauf hin, dass „die Zustände in den Depots die Objekte beschädigen“. Auch der Museumsforscher Dirk Heisig beklagt den allmählichen Verfall der Objekte durch überfüllte Lager und unzureichende Konservierung. Er spricht von „passivem Entsammeln“.

 

Nachdem der Autor im Juli in der Süddeutschen Zeitung auf die Zustände hingewiesen hatte, äußerte sich nun Lars-Christian Koch, der Direktor des Berliner Museums. Ein „erheblicher Investitionsstau“ sei „unbestreitbar“, schrieb er. Teile der Gebäude seien in „keinem guten Zustand“.

 

Die baulichen und konservatorischen Defizite machen indes nur einen Teil der Probleme in den ethnologischen Museen aus. Der andere betrifft die Verwaltung der Sammlungen. Fragt man die Museumsleute nach der Zahl ihrer Objekte, erhält man gewundene Antworten. In Stuttgart etwa soll es laut Inventar 290.000 geben. In Wahrheit, so schätzt das Museum, seien es nur 160.000. In Hamburg liegt der „Sollbestand“ bei 265.000 Objekten, doch die Direktorin Barbara Plankensteiner vermutet, es seien nur noch 200.000. In München schätzt man den Bestand auf 160.000 Objekte. Eine Inventur, in den 1960er Jahren abgebrochen, hat man 2015 wieder aufgenommen. Das Ende ist nicht abzusehen. Der Hauptgrund für diese enormen Diskrepanzen sind die Verluste im Krieg. Doch obwohl der bereits 75 Jahre zurückliegt, haben viele Museen nicht die Zeit gefunden, die Inventare zu aktualisieren.

 

Doch es gibt auch den umgekehrten Fall: Werke, oft Schenkungen, die auch nach Jahrzehnten noch nicht in den Bestand aufgenommen wurden, wie ein großer Teil der 135.000 Fotos im Münchner Museum. Eine bekannte Kuratorin, die an Häusern im In- und Ausland gearbeitet hat, erklärt: „In deutschen Völkerkundemuseen herrscht totales Chaos. Ich bin sicher, mindestens 15 Prozent der Objekte sind nicht inventarisiert.“

 

Und dann gibt es die Stücke, die zwar im Inventar geführt sind, aber ihre Nummer verloren haben, oft ein kleines Schildchen, das ihnen angeklebt oder angehängt wurde. Objekt und Nummer wieder zuzuordnen, ist oft fast unmöglich. Allein in der Südseeabteilung in Stuttgart gibt es 500 solcher verwaisten Objekte. In der Mesoamerika-Abteilung in Berlin schätzt man ihre Zahl auf 1.000 von 50.000.

 

Am erstaunlichsten sind in diesem Zusammenhang wohl die 118 Kisten mit rund 2.000 Objekten, die im Berliner Depot gestapelt sind. Im Krieg waren 55.000 Objekte aus dem Berliner Völkerkundemuseum ausgelagert und dann von der Roten Armee mitgenommen worden. Erst 1992 kamen sie zurück. Die Kisten enthalten den Rest dieses Konvoluts. Niemand weiß, was sich in ihnen befindet.

 

Und schließlich gibt es Objekte, die man irgendwann von ihrem in den Inventaren notierten Platz an einen anderen geräumt hat, und die nun nicht mehr auffindbar sind. In Hamburg mit seinen vier Magazinen liegen Tausende solcher „nicht verstandorteter“ Objekte.

 

Doch selbst, wenn die Objekte inventarisiert sind, sind sie in Gefahr – durch das, was die Berliner Ethnologin Sharon Macdonald das „Vergessen durch Lagern“ nennt. Bei Sammlungen mit Hunderttausenden von Objekten verschwinde alles, was nicht ständig präsent gehalten werde, unweigerlich aus dem Bewusstsein der Kuratoren. Sie spricht auch von der „Amnesie des Depots“.

 

Diese Dynamik wird in vielen Museen durch veraltete Inventare verstärkt. Wurden die alten Karteikarten in digitale Datenbanken übertragen, dann oft, ohne sie zu aktualisieren und an heutige Standards anzupassen. Außer dem Jahr, einer groben Ortsangabe und einer knappen Beschreibung des Gegenstands gibt es oft keine Informationen. Was außerdem vielfach fehlt, sind Fotos. Für die Afrika-Datenbank des Linden-Museums etwa wurde bisher fast nichts fotografiert, von den Südsee-Objekten höchstens zehn Prozent. Ohne Abbildungen sind die Datenbanken nahezu wertlos.

 

Alle ethnologischen Museen versprechen jetzt, ihre Inventare online zu stellen. In der Tat würde das Forschern in den Herkunftsgesellschaften endlich erlauben, nach dem Besitz ihrer Vorfahren zu suchen; es würde auch die Provenienzforschung erheblich erleichtern. Doch dafür müssten die Datensätze erst vollständig überarbeitet werden, so Lars-Christian Koch, dessen Haus immerhin einen kleinen Teil der Sammlung online zeigt. Man muss Begriffe wie „Neger“ oder „Südwestafrika“ korrigieren, muss Fotos identifizieren, die Gewaltszenen zeigen, und Objekte, die nach dem Verständnis der Herkunftsgesellschaften nicht alle sehen dürfen.

Obwohl es oft um Zehntausende Objekte geht, glaubt man in den deutschen Museen, die Kuratoren könnten diese Arbeit nebenbei erledigen. Wie illusorisch das ist, zeigt der Vergleich mit dem 1992 eröffneten Pariser Musée du quai Branly. Dort arbeiteten 70 Wissenschaftler sechs Jahre lang daran, alle 320.000 Objekte online zu stellen. Nur dank dieser Vorarbeit konnten Bénédicte Savoy und Felwine Sarr in ihrem Bericht für Präsident Emmanuel Macron detaillierte Empfehlungen für den Umgang mit einzelnen Objekten aus ehemaligen französischen Kolonien aussprechen.

 

Die Restitutionsdebatte setzt die Museen unter Druck, doch sie beschert ihnen auch eine Aufmerksamkeit, die sie jahrzehntelang entbehrten. Sogar im Koalitionsvertrag werden sie erwähnt: „Die Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen wollen wir fördern.“ Dennoch nützen sie dies kaum, um jetzt die notwendige finanzielle und personelle Unterstützung einzufordern. In der kürzlich veröffentlichten „Heidelberger Stellungnahme“ zum Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus versprechen die Direktoren der ethnologischen Museen „ein größtmögliches Maß an Transparenz“, ohne zuzugeben, dass ihnen oft selbst der Überblick über ihre Bestände fehlt. Sie werben für „kooperative Provenienzforschung als Standard“, ohne einzugestehen, dass Mittel fehlen und Vorarbeiten nicht gemacht sind. Nur hinter vorgehaltener Hand geben sie die Missstände zu und benennen die Gründe: mangelndes Personal, fehlendes Geld, kein Interesse bei den Trägern. Was zähle, seien immer nur Ausstellungen.

 

Eckart Köhne, der Präsident des Deutschen Museumsbunds, ist einer der wenigen, der die Probleme öffentlich benennt. Im „Leitfaden zum Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten“ fordert er, „die finanzielle und personelle Ausstattung der Museen“ müsse „dauerhaft und merklich verbessert werden“.

 

Was er nicht anspricht, ist aber die Wagenburgmentalität in vielen Häusern, die allen Bekenntnissen zu „Transparenz“ Hohn spricht. Besuche im Magazin erfordern langwierige Verhandlungen, wenn sie überhaupt möglich sind. Fotografieren ist verboten. Obwohl gesetzlich dazu verpflichtet, weigert sich das Museum Fünf Kontinente seinen Archivbestand an das Bayerische Staatsarchiv abzugeben. Auch das Berliner Ethnologische Museum behält entgegen der Vorschriften alle Archivalien im Haus.

 

Diese Unaufrichtigkeit, diese Neigung zu bloßer Symbolik ist in der gesamten Restitutionsdebatte zu beobachten. Statt Provenienzforschung wie bei NS-Raubkunst wäre die Aktualisierung und Zugänglichmachung der Inventare viel dringlicher. Statt die historische Aufarbeitung des Kolonialismus abgetrennt von der Frage nach der Herkunft der Objekte und möglicher Restitutionen zu behandeln, sollte man die beiden Komplexe als einen verstehen. Und so löblich Kooperationen mit Museen aus afrikanischen Ländern sind, so wenig ändern diese an der „Angst vor Kontrollverlust“, die die schon erwähnte Kuratorin den deutschen Häusern attestiert. Die Restitutionsdebatte sollte Anlass sein, auch über Selbstverständnis und Praxis der ethnologischen Museen zu diskutieren. In deren Zuge wäre dann auch zu klären, warum die Museen – und ihre Träger – Restitutionen bisher so skeptisch gegenüberstehen, obwohl ihnen doch offenbar wenig an den Objekten liegt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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