Kolonial-Kultur-Debatte als Katalysator

Bei Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten geht es um mehr als um Museumsbestände

Der Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr an den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu Museumsbeständen aus kolonialen Kontexten in Frankreich und deren Restitution sowie die nahende Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin wirken geradezu wie Katalysatoren in der Diskussion um den Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland. Den einen kann es gar nicht schnell genug gehen und sie fordern schnelle Taten statt Warten, die anderen warnen vor übereilten Handlungen, verweisen auf laufende Diskussionsprozesse und bestehende Dialoge mit Vertreterinnen und Vertretern von Herkunftsgesellschaften.

 

Bereits der Begriff „koloniale Kontexte“ zeigt an, dass es in der Debatte um Sammlungsgut aus den Ländern des globalen Südens um mehr als um das unmittelbare Verhältnis zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialstaaten geht. In den Kolonialismus waren auch jene europäischen Staaten involviert, die keine eigenen Kolonien hatten oder wie Deutschland erst relativ spät und dann nur vergleichsweise kurz Kolonialmächte waren. Besonders prägnant wird dies an der sogenannten Afrika- oder auch Kongokonferenz 1884/1885 in Berlin. Auf Einladung von Reichskanzler Otto von Bismarck trafen sich Vertreter der europäischen Mächte Belgien, Dänemark, Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Österreich-Ungarn, Portugal, Russland, Schweden-Norwegen und Spanien, um über Zugänge zum afrikanischen Kontinent zu verhandeln. Ebenso geladen waren Vertreter des Osmanischen Reiches sowie der USA. Der Vertreter der USA nahm vor allem als Beobachter teil.

 

Ergebnis der sogenannten Kongokonferenz war die Kongoakte. König Leopold II. von Belgien ging als großer Gewinner vom Konferenztisch. Das rohstoffreiche Kongobecken ging in seinen Privatbesitz über. Welche Folgen dies für die Geschichte dieses bis heute durch Krieg gezeichneten Landes hat, analysiert eindrücklich David Van Reybrouck in seinem sehr lesenswerten Buch „Kongo: Eine Geschichte“. Aber nicht nur der belgische König profitierte. Insbesondere Frankreich und Großbritannien begannen nach der Kongokonferenz verstärkt in das Innere des „dunklen Kontinents“ vorzudringen und teilten den afrikanischen Kontinent ohne Rücksicht auf bestehende Strukturen und die dort lebenden Menschen mehr oder wenig unter sich auf. Das Deutsche Reich erhielt aus dem reichen Kuchen mit Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika eher kleinere Stücke und verlor diese infolge des Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg. In den französisch und britisch besetzten Ländern fanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erbitterte Befreiungskämpfe statt. Der Algerien-Krieg, der Vietnam-Krieg, die Befreiungsbewegungen in Südamerika, sie alle sind in den Kontext der Nachwirkungen des Kolonialismus einzuordnen.

 

Trotz seiner vergleichsweise kurzen Kolonialgeschichte war und ist Deutschland in das Kolonialgeschehen fest eingebunden. Kolonialwaren waren auch im Deutschen Reich sehr begehrt. Forschungsreisende im 18. und 19. Jahrhundert haben die Unterstützung der Kolonialmächte genossen. Gesammelte, getauschte und erworbene Stücke fanden Eingang in Sammlungen. Um dieses Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, deren Provenienzgeschichte, die Rechtmäßigkeit des Erwerbs, die Präsentation, die Restitution und anderes mehr dreht sich derzeit die Diskussion. Dahinter steht letztlich die Kernfrage nach dem Verhältnis zwischen Nord und Süd, zwischen westlichen Indus­trienationen und den Ländern des globalen Südens. Denn der Wohlstand in den westlichen Industrienationen beruht zu einem Teil auf der Ausbeutung der Länder des globalen Südens bzw. ungerechten Handelsbeziehungen.

 

Die Debatte um Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten betrifft daher nicht nur die Fachwelt in den Museen, die Wissenschaft und die Politik, die die Weichen stellen muss. Sie geht alle an, weil sie die Frage berührt, in welcher Welt wir leben wollen und wie gerecht es in dieser Welt zugeht.

 

Der Deutsche Kulturrat hat Anfang dieses Jahres ein umfängliches Positionspapier zur UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vorgelegt. In dem Positionspapier wird die UN-Agenda 2030 als Weltzukunftsplan bezeichnet und gleich zu Beginn deutlich gemacht, dass nachhaltige Entwicklung eine kulturelle Herausforderung ist und es gilt, »alte Muster, Gewohnheiten und Gewissheiten zu hinterfragen«. Zu diesen alten Mustern gehören die Bilder von den Ländern des globalen Südens, von ihrer Kultur, von ihren Mythen und Geschichten. Die Auseinandersetzung mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bietet daher die Chance, alte Muster und Denkweisen zu hinterfragen und neu zu denken. Es geht um Aufarbeitung und die Entwicklung von Zukunftsperspektiven.

 

 

Eine Zukunftsperspektive ist, welche Objekte zu welchen Konditionen in Deutschland verbleiben und wie über sie geforscht und sie ggf. präsentiert werden. Eine weitere, wie zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus den Ländern des globalen Südens bei uns Marktzugang finden, wie ihre Werke gezeigt und zu fairen Marktbedingungen verkauft werden. Südafrika hat eine boomende Gameswirtschaft, Nigeria hat die weltweit zweitgrößte Filmwirtschaft, nach Bollywood noch vor Hollywood, die populäre Musik ist ein wichtiger kulturwirtschaftlicher Faktor in verschiedenen afrikanischen Ländern. Es gilt unseren Blick zu befreien von folkloristischen Klischees und von paternalistischen Vorstellungen. Dieser neue Blick würde einen wichtigen und wenig beachteten Aspekt der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in den Mittelpunkt des Interesses rücken, nämlich den Nord-Süd-Dialog.

 

Unseres Erachtens liegt gerade in der Zukunftsperspektive ein wesentlicher Unterschied in der Diskussion um den Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und der Restitution NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes. Die Restitution NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgutes ist Teil der Aufarbeitung des NS-Unrechts, der Beteiligung des Kultursektors daran und der Rückgabe von Kulturgut an die rechtmäßigen Eigentümer bzw. deren Erben. Es ist gut und war bitter notwendig, dass die Bundesregierung seit einigen Jahren ein besonderes Augenmerk hierauf richtet und Ressourcen zur Provenienzrecherche zur Verfügung stellt.

 

Ebenso positiv ist es, dass die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart haben, sich dem Thema Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu widmen und zur Provenienzforschung Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Ebenfalls wichtig ist es, die sogenannten Kleinen Fächer an den Universitäten zu stärken, damit hier die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgebildet werden, die im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen der Herkunftsgesellschaften das Sammlungsgut lesen und interpretieren können. Und genauso kommt es darauf an, den Wissenschafts- und den Museumsaustausch weiter auszubauen. Eine zentrale Herausforderung wird sein, den Blick zu ändern, weg vom Blick auf das Exotische, hin zur gleichberechtigten Betrachtung eines Teiles des Welterbes.

 

Doch um unsere koloniale Tradition wirklich zu beenden, müssen wir Afrika endlich auch politisch und wirtschaftlich gleichberechtigt behandeln. Ein wichtiger erster Schritt muss sein, Afrika deutlich mehr Zugänge zu unseren Märkten zu geben. In der Wirtschaftspolitik Europas und der USA wird besonders deutlich, dass das koloniale Denken noch längst nicht überwunden ist. Die Debatte um die Museumsbeständen aus kolonialen Kontexten werden hier ein wirkungsvoller Katalysator, weit über den Kulturbereich hinaus sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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