Katalysator öffentlicher Meinungsbildung

Das Humboldt Forum ein Jahr vor der Eröffnung

Mit einem weltweit einzigartigen Südseeboot ist im Mai das erste Ausstellungsobjekt aus dem Ethnologischen Museum in Dahlem in das Humboldt Forum im Berliner Schloss eingezogen – auf die Minute und den Zentimeter genau wie geplant. Damit ist offensichtlich, dass die Bauphase zu Ende geht und der Kulturbetrieb nun im wahrsten Sinne des Wortes vor der Tür steht. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Gründungsintendanz: Neil MacGregor, Hermann Parzinger und Horst Bredekamp haben mit ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Kunstsammlungen, die weit über nationale Horizonte hinausweisen und Weltgeschichte erzählen, dafür gesorgt, dass neben dem spektakulären Bau auch das Programm Gestalt angenommen hat, das diese Räume ab Ende 2019 mit Leben erfüllen soll. Es freut mich sehr, dass wir zum Abschied der Gründungsintendanz den Kunsthistoriker Hartmut Dorgerloh als Generalintendanten des Humboldt Forums gewinnen konnten. Bestens vernetzt und dem Projekt seit vielen Jahren verbunden, ist er der Richtige, um aus dem Humboldt Forum einen pulsierenden Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Debattenort zu machen, in dem auch eine zeitgemäße Vermittlungsarbeit breiten Raum einnehmen wird. Die künftige Leitungsstruktur, die die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten definiert, wird es ihm einerseits erlauben, für das Haus ein klares Profil zu schaffen, andererseits aber allen Beteiligten den nötigen Freiraum lassen.

 

Für die Zukunft des Humboldt Forums ist es sicherlich nicht das schlechteste Vorzeichen, dass es seinem Ruf als Katalysator öffentlicher Meinungsbildung schon vor seiner Eröffnung alle Ehre macht und notwendige Debatten anstößt – z. B. über die Frage, wie eine demokratische Gesellschaft sich zur Religion positioniert: mit selbstbewusstem Bezug auf die eigene Geschichte, Kultur und Identität oder in bewusster Distanz zu allen Religionen und Weltanschauungen?

 

Eben darum ging es im Sommer des vergangenen Jahres in einer hitzigen Diskussion über die Kuppel des Berliner Schlosses, die dem Geiste des einstigen Bundestagsbeschlusses entsprechend ein großes, vergoldetes Kreuz tragen soll. Mit einem Kreuz auf der Kuppel könne das künftig im Schloss beheimatete Humboldt Forum als Museum der Weltkulturen keinesfalls Schauplatz kultureller Verständigung auf Augenhöhe sein, monierten Kritiker. Ich persönlich bin anderer Auffassung. Dialogfähigkeit erfordert nicht Standpunktlosigkeit, im Gegenteil: Verständigung braucht Haltung. Unsere Haltung der Offenheit, der Freiheit und auch der Barmherzigkeit, der Solidarität hat ihre Wurzeln in unserem christlichen Menschenbild. Und was Europa zur Weltkultur beigetragen hat, ist eben auch und vor allem christlich geprägt. Deshalb ist es kein Widerspruch, den Dialog der Weltkulturen unter dem Symbol des Christentums zu kultivieren – was übrigens auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland befürwortet. Abgesehen davon glaube ich, dass man Wasser auf die Mühlen der Populisten und Nationalisten schüttet, wenn man die Rückbindung an das Eigene zum Anachronismus erklärt.

 

Mit den Fortschritten beim Humboldt Forum ist ein weiteres Thema ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, das schon lange nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte verlangte – der Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Viel zu lang war die Kolonialzeit vergessen und verdrängt. Sie endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen. Dass alle Museen ihre Bestände erforschen, ist ein notwendiger Schritt, um mit den kulturellen Zeugnissen ihrer Sammlungen und dem Kulturgut aus kolonialen Kontexten verantwortungsvoll, sensibel und im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften umzugehen. Es sind Herausforderungen, die nicht allein das Humboldt Forum betreffen, für die das Humboldt Forum in Deutschland aber Maßstab und Vorbild sein kann.

 

Im Humboldt Forum ist dies freilich nur ein Schwerpunkt unter mehreren: Der Bau hat drei riesige Etagen plus Erdgeschoss; nur in einem Teil werden außereuropäische Sammlungen zu sehen sein, und davon wiederum ist nur ein Aspekt der Umgang mit Exponaten aus kolonialen Kontexten. Deshalb warne ich davor, die Vision, die wir mit Deutschlands größtem Kulturprojekt verfolgen, auf die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit zu verengen.

 

Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. Sie stiften Identität. Im Humboldt Forum erwartet uns eine ganz neue Art, die „Frage nach dem Wir“ zu stellen und zu beantworten – in den Worten Wilhelm von Humboldts formuliert: das „Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln.“ Es mag utopisch scheinen, „die gesamte Menschheit (…) als einen großen, nahe verbrüderten Stamm“ zu betrachten. Doch die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz offenbaren in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten zumindest, dass es ein „Wir“ nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Wenn am Ende eines Besuchs im Humboldt Forum die Erkenntnis steht, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet, als uns trennt, wäre für Demokratie und Verständigung in Deutschland und in der Welt schon viel gewonnen. Allein dafür verdient Deutschlands wichtigstes Kulturprojekt ganz gewiss breite gesellschaftliche Unterstützung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Monika Grütters
Monika Grütters, MdB ist Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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