Monika Grütters - 6. September 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Humboldt Forum

Katalysator öffentlicher Meinungsbildung


Das Humboldt Forum ein Jahr vor der Eröffnung

Alexander von Humboldt war teils mit schwer beladenen Maultieren, teils in ausgehöhlten Baumstämmen unterwegs, als er einst durch Südamerika reiste, um Pyramiden und Vulkane zu vermessen, den südamerikanischen Urwald zu erforschen und den Amazonas samt seiner Nebenflüsse zu erkunden. Abenteuerlich waren nicht nur seine Fortbewegungsmittel. Denn statt robuster Bergschuhe, atmungsaktiver Funktionsunterwäsche und wind- und wasserresistenter Jacken – Ausrüstung, die in Deutschland heutzutage zur Ausstattung jedes Wochenendspaziergängers gehört –, trug er selbst beim Erklimmen der höchsten Gipfel schwarzen Frack mit weißer Halsbinde, Hut und dünne Rokoko-Stiefel. Wie groß muss der Drang gewesen sein, die Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen, um ohne Schutz vor Wind, Wetter und Naturgewalten die Strapazen einer solchen Expedition auf sich zu nehmen!

 

Als Forschungsreisender mit dem Drang, die Welt in ihrer Gesamtheit zu ergründen, machte – wenn auch im übertragenen Sinn – ebenso Alexanders Bruder Wilhelm von sich reden: Sein Interesse galt unter anderem den Eingeborenensprachen Amerikas, Asiens und Polynesiens. An seinem Schreibtisch im Tegeler Schloss arbeitete er bis zu seinem Tod an einer Studie über die antike, eng mit dem indischen Sanskrit verwandte Kawi-Sprache auf der Insel Java. Über fremde Sprachen entdeckte er ferne Welten und kam zu der Überzeugung, dass es jenseits des europäischen Horizonts auch andere hochentwickelte Kulturuniversen gibt – ein geradezu revolutionärer Gedanke in den Ländern des heutigen Europas, in denen man den eigenen Kulturraum für den Nabel der Welt hielt. Wie sein Bruder Alexander mit seinen Kosmos-Vorlesungen, zu denen jedermann kostenfrei Zutritt hatte, erwies auch Wilhelm sich als Wegbereiter des mündigen, selbstständig denkenden Bürgers. Ihm verdanken wir einen allumfassenden Bildungsbegriff: die Überzeugung, dass Bildung individuelle Entfaltung auf allen Ebenen und damit weit mehr meint als die Aneignung von Wissen – eine Überzeugung, die bis heute den Anspruch der kulturellen Bildung begründet, Kultur für alle zugänglich zu machen.

 

So steht der Name „Humboldt“ für die Tradition der Aufklärung, insbesondere aber für die gleichermaßen selbstbewusste wie weltoffene Annäherung der Völker und das Ideal eines gleichberechtigten Dialogs unterschiedlicher Weltkulturen. Dieses Vermächtnis der Humboldt-Brüder ins Zeitalter der Globalisierung zu übersetzen, ist die kulturpolitische Vision, die im Humboldt Forum Wirklichkeit werden soll. Basislager für eine Weltreise soll es sein, unterschiedliche Disziplinen in interdisziplinärer Zusammenarbeit vereinen und im Publikum die schier unerschöpfliche Neugier auf die Welt wecken, die Alexander und Wilhelm von Humboldt vor 250 Jahren antrieb.

 

Das Humboldt Forum bietet deshalb enorme Flächen für die außereuropäischen Kulturen und erhebt diese damit in den gleichen Rang wie die Kunst und Kultur der Antike und des Mittelalters in Europa sowie des Nahen Ostens. Etwa 20.000 Artefakte und Kunstwerke aus den Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst werden hier ab 2019 zu sehen sein; bis zu 1.000 Veranstaltungen jährlich – unter anderem Konzerte, Lesungen, Workshops – werden hier stattfinden. Die Exponate aus aller Welt werden die großen, alle Kulturen prägenden Themen der Menschheitsgeschichte erzählen. So geht es beispielsweise um Anfang und Ende des Lebens und um den Umgang der Generationen miteinander, aber auch um das große Menschheitsthema Migration und um die Rolle der Religionen – ein Thema, das gerade mit Blick auf die Krisen und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, mit Blick auf die damit verbundenen Flüchtlingsströme und auch mit Blick auf die Angst, die Terroristen im Namen des religiösen Fundamentalismus verbreiten, differenzierter Auseinandersetzung und breiter öffentlicher Debatten bedarf. Das Humboldt Forum lädt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität wie auch zur Neugier auf das Andere, zur Reflexion des eigenen Standpunkts wie auch zum Perspektivenwechsel ein. Ich freue mich, dass wir diese Einladung auch laut Koalitionsvertrag mit freiem Eintritt für die Dauerausstellung bekräftigen, so wie es im Sinne der kulturellen Bildung und Vermittlung mein Anliegen war.

 

Als Ort öffentlicher Debatten, der Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt, steht das Humboldt Forum auch für das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dazu gehört, dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern den Kulturen der Welt eine Bühne bieten und das Eigene im Austausch mit dem Anderen definieren. Hier zeigt sich, dass wir gelernt haben, mit den tiefen Abgründen und Brüchen in unserer Demokratiegeschichte umzugehen. Statt in reiner Selbstbezüglichkeit zu verharren, empfiehlt Deutschland sich als Partner in der Welt – als treibende Kraft einer Verständigung der Völker – und investiert dafür knapp 600 Millionen Euro. Davon tragen der Bund 483 Millionen Euro und 32 Millionen Euro das Land Berlin. Hinzu sollen 80 Millionen Euro an privaten Spendengeldern für die historische Fassade kommen. Über die Baukosten hinaus sind im Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) Mittel für die Bespielung bzw. deren Vorbereitung vorgesehen: 2018 rund 34 Millionen Euro und in den Folgejahren sogar noch mehr. Die dafür zur Verfügung stehende, gewaltige Ausstellungsfläche von rund 33.000 Quadratmetern bei 41.500 Quadratmetern Nutzungsfläche im Humboldt Forum bildet zusammen mit den Ausstellungsflächen auf der Museumsinsel eine Gesamtausstellungsfläche von rund 64.000 Quadratmetern, die der Kunst, Kultur und Wissenschaft gewidmet ist. Damit spielt das gesamte Ensemble der Größe nach in der gleichen Liga wie der Louvre in Paris, die Eremitage in Sankt Petersburg, das chinesische Nationalmuseum in Peking und das Metropolitan Museum of Art in New York. Dass wir mit dem Baufortschritt auch auf der Zielgeraden zur Eröffnung 2019 noch im Zeit- und Kostenplan liegen, verdient angesichts dieser Dimensionen großen Respekt.

Mit einem weltweit einzigartigen Südseeboot ist im Mai das erste Ausstellungsobjekt aus dem Ethnologischen Museum in Dahlem in das Humboldt Forum im Berliner Schloss eingezogen – auf die Minute und den Zentimeter genau wie geplant. Damit ist offensichtlich, dass die Bauphase zu Ende geht und der Kulturbetrieb nun im wahrsten Sinne des Wortes vor der Tür steht. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Gründungsintendanz: Neil MacGregor, Hermann Parzinger und Horst Bredekamp haben mit ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Kunstsammlungen, die weit über nationale Horizonte hinausweisen und Weltgeschichte erzählen, dafür gesorgt, dass neben dem spektakulären Bau auch das Programm Gestalt angenommen hat, das diese Räume ab Ende 2019 mit Leben erfüllen soll. Es freut mich sehr, dass wir zum Abschied der Gründungsintendanz den Kunsthistoriker Hartmut Dorgerloh als Generalintendanten des Humboldt Forums gewinnen konnten. Bestens vernetzt und dem Projekt seit vielen Jahren verbunden, ist er der Richtige, um aus dem Humboldt Forum einen pulsierenden Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Debattenort zu machen, in dem auch eine zeitgemäße Vermittlungsarbeit breiten Raum einnehmen wird. Die künftige Leitungsstruktur, die die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten definiert, wird es ihm einerseits erlauben, für das Haus ein klares Profil zu schaffen, andererseits aber allen Beteiligten den nötigen Freiraum lassen.

 

Für die Zukunft des Humboldt Forums ist es sicherlich nicht das schlechteste Vorzeichen, dass es seinem Ruf als Katalysator öffentlicher Meinungsbildung schon vor seiner Eröffnung alle Ehre macht und notwendige Debatten anstößt – z. B. über die Frage, wie eine demokratische Gesellschaft sich zur Religion positioniert: mit selbstbewusstem Bezug auf die eigene Geschichte, Kultur und Identität oder in bewusster Distanz zu allen Religionen und Weltanschauungen?

 

Eben darum ging es im Sommer des vergangenen Jahres in einer hitzigen Diskussion über die Kuppel des Berliner Schlosses, die dem Geiste des einstigen Bundestagsbeschlusses entsprechend ein großes, vergoldetes Kreuz tragen soll. Mit einem Kreuz auf der Kuppel könne das künftig im Schloss beheimatete Humboldt Forum als Museum der Weltkulturen keinesfalls Schauplatz kultureller Verständigung auf Augenhöhe sein, monierten Kritiker. Ich persönlich bin anderer Auffassung. Dialogfähigkeit erfordert nicht Standpunktlosigkeit, im Gegenteil: Verständigung braucht Haltung. Unsere Haltung der Offenheit, der Freiheit und auch der Barmherzigkeit, der Solidarität hat ihre Wurzeln in unserem christlichen Menschenbild. Und was Europa zur Weltkultur beigetragen hat, ist eben auch und vor allem christlich geprägt. Deshalb ist es kein Widerspruch, den Dialog der Weltkulturen unter dem Symbol des Christentums zu kultivieren – was übrigens auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland befürwortet. Abgesehen davon glaube ich, dass man Wasser auf die Mühlen der Populisten und Nationalisten schüttet, wenn man die Rückbindung an das Eigene zum Anachronismus erklärt.

 

Mit den Fortschritten beim Humboldt Forum ist ein weiteres Thema ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, das schon lange nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte verlangte – der Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Viel zu lang war die Kolonialzeit vergessen und verdrängt. Sie endlich ans Licht zu holen, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den ehemaligen Kolonien und Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den dort lebenden Menschen. Dass alle Museen ihre Bestände erforschen, ist ein notwendiger Schritt, um mit den kulturellen Zeugnissen ihrer Sammlungen und dem Kulturgut aus kolonialen Kontexten verantwortungsvoll, sensibel und im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften umzugehen. Es sind Herausforderungen, die nicht allein das Humboldt Forum betreffen, für die das Humboldt Forum in Deutschland aber Maßstab und Vorbild sein kann.

 

Im Humboldt Forum ist dies freilich nur ein Schwerpunkt unter mehreren: Der Bau hat drei riesige Etagen plus Erdgeschoss; nur in einem Teil werden außereuropäische Sammlungen zu sehen sein, und davon wiederum ist nur ein Aspekt der Umgang mit Exponaten aus kolonialen Kontexten. Deshalb warne ich davor, die Vision, die wir mit Deutschlands größtem Kulturprojekt verfolgen, auf die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit zu verengen.

 

Ein Gedicht sei immer die Frage nach dem Ich, hat Gottfried Benn einmal gesagt – und man könnte ergänzen: Ein Museum ist immer die Frage nach dem Wir. Museen sind kollektives Gedächtnis und Bewusstsein. Sie stiften Identität. Im Humboldt Forum erwartet uns eine ganz neue Art, die „Frage nach dem Wir“ zu stellen und zu beantworten – in den Worten Wilhelm von Humboldts formuliert: das „Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln.“ Es mag utopisch scheinen, „die gesamte Menschheit (…) als einen großen, nahe verbrüderten Stamm“ zu betrachten. Doch die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz offenbaren in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten zumindest, dass es ein „Wir“ nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. Wenn am Ende eines Besuchs im Humboldt Forum die Erkenntnis steht, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet, als uns trennt, wäre für Demokratie und Verständigung in Deutschland und in der Welt schon viel gewonnen. Allein dafür verdient Deutschlands wichtigstes Kulturprojekt ganz gewiss breite gesellschaftliche Unterstützung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.


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