Entgrenzung und Teilhabe

Diese Filmproduktion, die von der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss finanziert wurde, gab den Anstoß für zwei weitere Filmprojekte, die das mögliche Potenzial für das Humboldt Forum aufzeigen: Es entstanden sechs Kurzfilme, die Kinder der Ye‘kuana aus Venezuela produziert haben – in Eigenregie, unterstützt vom indigenen Filmemacher Kuujani López Núñez, gemeinsam initiiert von der indigenen Organisation Kuyujani und Mitarbeitenden des Ethnologischen Museums. Nicht der Blick von außen, sondern die eigene Jetzt-Perspektive prägen diese Beiträge. Sie geben Einblicke in die Lebenswirklichkeiten der Kinder und erzählen über das, was ihnen wichtig ist. Am 11. Januar 2018 wurden die Kurzfilme in einer Premierenaufführung im Rahmen der Veranstaltung des Humboldt Forums „Kind sein in Amazonien“ vorgestellt, anschließend liefen sie auf dem Kinderrechte Filmfestival in Brandenburg und stießen dort weitere Initiativen für einen direkten Austausch an.
Zum anderen ist es die Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ derzeit in der Humboldt-Box zu sehen – die dritte und letzte große Ausstellung, bevor Ende 2019 das Humboldt Forum eröffnen wird. Sie verdankt sich einer Kooperation zwischen drei wichtigen Institutionen: dem Lautarchiv der Humboldt-Universität, dem Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums und der Foundation for Arab Music Archiving and Research (AMAR) aus Beirut. Diese libanesische Privatstiftung hat sich der Bewahrung und Verbreitung traditioneller arabischer Musik verpflichtet.

 

Derzeit konzen­triert sie sich darauf, die Tonzeugnisse der durch die politische Situation im Nahen Osten gefährdeten Communities zu sammeln und zu bewahren. Als eine der größten und wichtigsten Archive besitzt sie über 7.000 Aufnahmen, hauptsächlich aus der „Nahda“-Ära (von 1903 bis 1930) sowie ungefähr 6.000 Stunden Aufzeichnungen auf Magnetbändern.

 

Zusammen mit den Tonaufnahmen des Phonogramm-Archivs, des Lautarchivs und den Schätzen historischer Ägyptisch-Syrisch-Libanesisch-Arabischer Musikaufnahmen entwirft die Ausstellung ein vielschichtiges Klangbild durch die Geschichten und auch der Problematiken dieser ersten Archive. Sie offenbart die komplexen Zusammenhänge, die sich in diesen Archiven verdichten, wie etwa die Entwicklung der Techniken, aber auch der Bedingungen und Ziele der Aufzeichnung von Sprache und Musik, die Entstehung eines Weltmusikmarktes und die Begegnungen von Klängen und Kulturen. Wem gehört der Klang in Aufnahmen? Wie verbreiten sich Klänge und Musikstile weltweit? Wie geht man mit Klang als immateriellem Kulturgut um? Wer darf wessen Klänge aufzeichnen, aufbewahren und weiterverwenden? Beispielhaft für ethische Problematiken werden die Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, aber auch die der Rituale der Navaho thematisiert. Die Bereicherung um klangliche Dimensionen, um die erlebbare Vielfalt von Sprache und Musik wird das Humboldt Forum einzigartig machen – die Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ zeigt bereits jetzt das große Potenzial – und dessen Herausforderungen.

 

Beide experimentell und prozessoffen angelegten Projekte sind für den Aufbau des Programms im Humboldt Forum wichtige Leitbilder. Sie haben uns folgendes klargemacht: Über die partizipative und kollaborative Zusammenarbeit lässt sich – wie bei den Ye’kuana – zukünftig gemeinsam entscheiden, was und wie gesammelt wird. In diesem Sinne versteht sich eine Kuratorin bzw. ein Kurator oder das Humboldt Forum als Institution in der Rolle eines Ermöglichers. Es ist wünschenswert, dass diese Kollaborationen zum größten Teil direkt aus dem Museums- und Ausstellungsbudget finanziert werden. So können sie unabhängiger, ergebnisoffener und vor allem integrativer Bestandteil des Programms werden. Sie lassen sich institutionell vertreten und direkt anbinden. Die Zusammenarbeit mit Institutionen wie Schulen oder Nichtregierungsorganisationen erlaubt einen sehr viel engeren Austausch mit den Communities und ihren Belangen und stellt auf direktem Weg den Kontakt zur zeitgenössischen Kultur her. Ein großes Handicap der meisten großen Museen weltweit ist, dass sie überwiegend mit akademischen, d. h. universitären und musealen, Fachkreisen kooperieren – die in den meisten Ländern staatliche Institutionen sind. Damit ist häufig nur ein kleiner elitärer Kreis partizipativ beteiligt.

 

Deshalb sollte es sich das Humboldt Forum zum Anspruch machen, Menschen und Gemeinschaften genauso zu Wort kommen zu lassen, die keine Stimme haben. Um eine Multiperspektivität zu erzeugen und Lebenswirklichkeiten abzubilden, werden die Kooperationspartner nicht ausschließlich Teil akademischer, elitärer Kreise sein, sondern die Communities als Stakeholders einbinden. Nicht das Ergebnis oder die Präsentation der Projekte stehen im Fokus, sondern der „open end“-Prozess der Zusammenarbeit selbst, dessen Verlauf nicht vorherbestimmt werden kann. Auf diese Weise können bestehende Vertrauensverhältnisse gestärkt und ausgebaut werden und Freiräume entstehen. Wichtig wäre zudem, auch im Humboldt Forum einen „community curator“, wie er im angelsächsischen Bereich längst Realität geworden ist, von Anbeginn als Teil des Ausstellungsteams zu integrieren.

 

Weil es hier so oft um politisch sensible Themen geht, ist es besonders wichtig, dass sich das Humboldt Forum von jedem eventuellen politischen Einfluss distanziert. Um diese notwendige Unabhängigkeit zu verteidigen und zu proklamieren, sollte der Stiftungsrat idealiter nicht exklusiv politisch besetzt sein. Wenn sich das Humboldt Forum als Ermöglicher diese Vorgehensweisen zu seiner Haltung macht, wäre es, der Idee Alexanders von Humboldt gemäß, eine lebendige Plattform für den Austausch von Ideen, ein Treffpunkt der Kulturen und Lebensformen. Es könnte, wie es der kenianische Museumsmann und Mitglied unserer internationalen Expertenkommission, George Abungu, so treffend formuliert hat, „in die Zukunft zielen!“.

Neil MacGregor
Neil MacGregor ist Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt Forums
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