Neil MacGregor - 24. April 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Humboldt Forum

Entgrenzung und Teilhabe


In der Mitte der politischen Bühne steht heutzutage weltweit die Geschichte. Überall wird sie für nationale Identitäten und damit verbundene politische Interessen sinnstiftend. Schon die Idee der Nation ist mit Legenden und mit Mythen, aber auch mit Geschichte – häufig selektiv, ab und zu irreführend oder einfach falsch – verwoben. Dies lässt sich derzeit im politischen Diskurs auf ganz unterschiedliche Weise in Großbritannien und Frankreich, in Indien, Deutschland, der Türkei, in Griechenland, in China, Russland oder in den USA verfolgen.

 

Warum sind diese Geschichtsbilder so einflussreich und langlebig? Kreieren sie wirklich gemeinschaftliche Erfahrungsräume? Und welche Funktion haben historische Mythen für die heutige politische Weltwahrnehmung? Inwiefern tangieren sie die Zukunft? Wessen Geschichte setzt sich durch und wer darf sie erzählen? Darf der Staat allein entscheiden, welche Geschichten erzählt werden dürfen? Dies sind spannende – und wichtige – Fragen, denen sich das Humboldt Forum zukünftig widmen kann; und genau hierin liegt seine Expertise. Denn die Wirkung der Mythen und Geschichten, die Teil der nationalen Identitäten werden, entfaltet sich nicht nur über die Erzählungen, sondern insbesondere über die Bilder und Riten. Historische Objekte werden als Zeitzeugnisse ganz besonders wichtig. Aus diesem Grund müssen, können und sollen die Museen – und vor allem das Humboldt Forum – in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen eine wichtige Rolle spielen.

 

Denn die materiellen Zeugnisse aller Kulturen sind das Erbe aller Menschen. Sie bewahren ihre eigenen Geschichten, und diese müssen erzählt werden. Alle gemeinsam prägen sie Weltkulturgeschichte. Wer sich planetär verortet, seinen Blick weitet und Denkschwellen überwindet, kann die Herausforderungen vor dem Hintergrund eines globalisierten, dynamischen Weltgeschehens annehmen. Es gilt für das Humboldt Forum, Lebensnähe herzustellen über ein neues, sensibilisiertes Selbstverständnis im Umgang mit den Objekten aus anderen Kulturen, aber auch der eigenen. Es muss sich für sein Publikum interessieren und im besten Sinne populär sein. Diese Leitlinien werden nur dann zu einem Selbstverständnis, wenn sie sich tief in die Ausstellungs-, Vermittlungs- und Programmpraxis hineinpflanzen.

 

Umso wichtiger ist es, am Haus die Strukturen zu schaffen, in denen solche Konzepte umsetzbar sind. Die beiden richtungsweisenden Aspekte für die zukünftigen Ausstellungs- und Programmformate des Humboldt Forums sind Entgrenzung und Teilhabe. Das Humboldt Forum ist eine deutsche Institution, es kann aber nur in enger Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt Antworten auf solche Fragen finden. Und so wird es für den Erfolg des Hauses entscheidend sein, wie die Inhalte zukünftig gemeinsam mit den Akteuren Staatliche Museen, Stadtmuseum Berlin und Humboldt-Universität sowie mit internationalen Kooperationspartnern, insbesondere mit den Communities der Herkunftsgesellschaften, erarbeitet werden können. Um dies zu ermöglichen, werden derzeit mit unterschiedlichen Partnern die Voraussetzungen für ein fest integriertes Residency-Programm geschaffen.

 

Wie aktuell kann das Humboldt Forum sein? Die historischen Sammlungsbestände der Staatlichen Museen, die ins Humboldt Forum ziehen, dokumentieren meistens ein spezifisches, fokussiertes Sammelinteresse zu einer bestimmten Zeit. Der Großteil der ethnologischen Sammlungen aus Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien kam im letzten Drittel des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin. Diese Begrenzungen müssen sichtbar gemacht werden. Es ist unmöglich, die Totalität einer Kultur zu sammeln und umfassend zu repräsentieren. Was geben die Objekte in ihrer Zusammenstellung preis über den interessegeleiteten Anspruch des Sammelns, der wissenschaftlichen Untersuchung und der musealen Präsentation? Welche Geschichtsbilder – historisch oder aktuell – verkörpern sie? Wie kann die Verbindung zur heutigen Welt über solche Objekte und Zeitzeugnisse hergestellt werden? Wie und auf welchen Wegen lässt sich mit den Kollegen, Kuratoren und Communities aus den Herkunftsländern zusammenarbeiten?

 

Zwei Projekte in Vorbereitung auf das Humboldt Forum stehen beispielhaft für den Versuch, eine polyphone Erzählung vieler, ganz unterschiedlicher Geschichten zum Klingen zu bringen, aber auch Gegenwärtiges und Zukünftiges mit ihnen zu verbinden. Zugleich demonstrieren sie die Möglichkeiten und das Entwicklungspotenzial einer prozesshaft verstandenen Kooperation, sowohl mit Communities als auch mit privaten Stiftungen.

 

Zum einen ist es die Zusammenarbeit des Ethnologischen Museums mit der indigenen Gruppe der Ye‘kuana aus dem Amazonasgebiet: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam eine bedeutende Sammlung von Objekten der Ye‘kuana nach Berlin. Ausgangspunkt der jetzigen Zusammenarbeit war das ethnologische Forschungsprojekt „Sharing Knowledge“, gefördert von der Volkswagenstiftung, aus dem sich eigenständig weitere Kooperationen entwickelten. Die Impulse kamen von den Vertretern der Ye‘kuana selbst, die weitere, zu erwerbende Objekte für das Ethnologische Museum vorschlugen. So entstand in eigener Regie und Umsetzung der Animationsfilm „Dijaawa Wotunnöi“. Er wurde im Rahmen der Ausstellung „Vorsicht Kinder!“ in der Humboldt-Box gezeigt. Erzählt wird eine Episode der Ursprungslegende der Ye‘kuana, die mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich nun über die bewegten Bilder bis nach Berlin verbreitet hat. Es ist die Geschichte der grausamen und blutrünstigen Betrügerin Dijaawa, erzählt in der Sprache der Ye‘kuana. Der Film ist nun Teil des Schulunterrichts bei den Ye‘kuana, um Kindern und jungen Erwachsenen das Lernen in der eigenen Sprache und Kultur zu ermöglichen und diese Mythen und Traditionen zu bewahren.

Diese Filmproduktion, die von der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss finanziert wurde, gab den Anstoß für zwei weitere Filmprojekte, die das mögliche Potenzial für das Humboldt Forum aufzeigen: Es entstanden sechs Kurzfilme, die Kinder der Ye‘kuana aus Venezuela produziert haben – in Eigenregie, unterstützt vom indigenen Filmemacher Kuujani López Núñez, gemeinsam initiiert von der indigenen Organisation Kuyujani und Mitarbeitenden des Ethnologischen Museums. Nicht der Blick von außen, sondern die eigene Jetzt-Perspektive prägen diese Beiträge. Sie geben Einblicke in die Lebenswirklichkeiten der Kinder und erzählen über das, was ihnen wichtig ist. Am 11. Januar 2018 wurden die Kurzfilme in einer Premierenaufführung im Rahmen der Veranstaltung des Humboldt Forums „Kind sein in Amazonien“ vorgestellt, anschließend liefen sie auf dem Kinderrechte Filmfestival in Brandenburg und stießen dort weitere Initiativen für einen direkten Austausch an.
Zum anderen ist es die Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ derzeit in der Humboldt-Box zu sehen – die dritte und letzte große Ausstellung, bevor Ende 2019 das Humboldt Forum eröffnen wird. Sie verdankt sich einer Kooperation zwischen drei wichtigen Institutionen: dem Lautarchiv der Humboldt-Universität, dem Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums und der Foundation for Arab Music Archiving and Research (AMAR) aus Beirut. Diese libanesische Privatstiftung hat sich der Bewahrung und Verbreitung traditioneller arabischer Musik verpflichtet.

 

Derzeit konzen­triert sie sich darauf, die Tonzeugnisse der durch die politische Situation im Nahen Osten gefährdeten Communities zu sammeln und zu bewahren. Als eine der größten und wichtigsten Archive besitzt sie über 7.000 Aufnahmen, hauptsächlich aus der „Nahda“-Ära (von 1903 bis 1930) sowie ungefähr 6.000 Stunden Aufzeichnungen auf Magnetbändern.

 

Zusammen mit den Tonaufnahmen des Phonogramm-Archivs, des Lautarchivs und den Schätzen historischer Ägyptisch-Syrisch-Libanesisch-Arabischer Musikaufnahmen entwirft die Ausstellung ein vielschichtiges Klangbild durch die Geschichten und auch der Problematiken dieser ersten Archive. Sie offenbart die komplexen Zusammenhänge, die sich in diesen Archiven verdichten, wie etwa die Entwicklung der Techniken, aber auch der Bedingungen und Ziele der Aufzeichnung von Sprache und Musik, die Entstehung eines Weltmusikmarktes und die Begegnungen von Klängen und Kulturen. Wem gehört der Klang in Aufnahmen? Wie verbreiten sich Klänge und Musikstile weltweit? Wie geht man mit Klang als immateriellem Kulturgut um? Wer darf wessen Klänge aufzeichnen, aufbewahren und weiterverwenden? Beispielhaft für ethische Problematiken werden die Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, aber auch die der Rituale der Navaho thematisiert. Die Bereicherung um klangliche Dimensionen, um die erlebbare Vielfalt von Sprache und Musik wird das Humboldt Forum einzigartig machen – die Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ zeigt bereits jetzt das große Potenzial – und dessen Herausforderungen.

 

Beide experimentell und prozessoffen angelegten Projekte sind für den Aufbau des Programms im Humboldt Forum wichtige Leitbilder. Sie haben uns folgendes klargemacht: Über die partizipative und kollaborative Zusammenarbeit lässt sich – wie bei den Ye’kuana – zukünftig gemeinsam entscheiden, was und wie gesammelt wird. In diesem Sinne versteht sich eine Kuratorin bzw. ein Kurator oder das Humboldt Forum als Institution in der Rolle eines Ermöglichers. Es ist wünschenswert, dass diese Kollaborationen zum größten Teil direkt aus dem Museums- und Ausstellungsbudget finanziert werden. So können sie unabhängiger, ergebnisoffener und vor allem integrativer Bestandteil des Programms werden. Sie lassen sich institutionell vertreten und direkt anbinden. Die Zusammenarbeit mit Institutionen wie Schulen oder Nichtregierungsorganisationen erlaubt einen sehr viel engeren Austausch mit den Communities und ihren Belangen und stellt auf direktem Weg den Kontakt zur zeitgenössischen Kultur her. Ein großes Handicap der meisten großen Museen weltweit ist, dass sie überwiegend mit akademischen, d. h. universitären und musealen, Fachkreisen kooperieren – die in den meisten Ländern staatliche Institutionen sind. Damit ist häufig nur ein kleiner elitärer Kreis partizipativ beteiligt.

 

Deshalb sollte es sich das Humboldt Forum zum Anspruch machen, Menschen und Gemeinschaften genauso zu Wort kommen zu lassen, die keine Stimme haben. Um eine Multiperspektivität zu erzeugen und Lebenswirklichkeiten abzubilden, werden die Kooperationspartner nicht ausschließlich Teil akademischer, elitärer Kreise sein, sondern die Communities als Stakeholders einbinden. Nicht das Ergebnis oder die Präsentation der Projekte stehen im Fokus, sondern der „open end“-Prozess der Zusammenarbeit selbst, dessen Verlauf nicht vorherbestimmt werden kann. Auf diese Weise können bestehende Vertrauensverhältnisse gestärkt und ausgebaut werden und Freiräume entstehen. Wichtig wäre zudem, auch im Humboldt Forum einen „community curator“, wie er im angelsächsischen Bereich längst Realität geworden ist, von Anbeginn als Teil des Ausstellungsteams zu integrieren.

 

Weil es hier so oft um politisch sensible Themen geht, ist es besonders wichtig, dass sich das Humboldt Forum von jedem eventuellen politischen Einfluss distanziert. Um diese notwendige Unabhängigkeit zu verteidigen und zu proklamieren, sollte der Stiftungsrat idealiter nicht exklusiv politisch besetzt sein. Wenn sich das Humboldt Forum als Ermöglicher diese Vorgehensweisen zu seiner Haltung macht, wäre es, der Idee Alexanders von Humboldt gemäß, eine lebendige Plattform für den Austausch von Ideen, ein Treffpunkt der Kulturen und Lebensformen. Es könnte, wie es der kenianische Museumsmann und Mitglied unserer internationalen Expertenkommission, George Abungu, so treffend formuliert hat, „in die Zukunft zielen!“.


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