Nichtakademikerkinder empowern

Katja Urbatsch von ArbeiterKind.de im Gespräch

Können Sie schon abschätzen, inwieweit durch das derzeitige Homeschooling der Studieneintritt für Nichtakademikerkinder noch mal erschwert wird?

Das ist auf jeden Fall so. Die Benachteiligung beginnt schon in der Schule, das Homeschooling macht es noch mal deutlicher: Es geht es auch darum, wer hat welche Ausstattung, wer hat welche Bedingungen zu Hause, wer hat ein eigenes Zimmer, wen können die Eltern unterstützen? Fehlt das, ist man benachteiligt. Und dann ist man natürlich noch mehr allein gelassen und überfordert, wenn es ums Thema Studium geht. Das führt häufig dazu, dass man eher was Sicheres machen möchte. In nichtakademischen Familien ist es eben die berufliche Ausbildung, die Sicherheit verspricht. Viele können ihr Potenzial gar nicht entfalten.

Generell ist es aber für alle Studierenden aktuell sehr schwierig, insbesondere für die Erst- und Zweitsemester, das merken wir schon. Viele, die ihr Studium angefangen haben, sind nicht vor Ort, sondern noch zu Hause – zum Teil im Kinderzimmer. Das fehlende akademische Umfeld und die nötige Infrastruktur machen es besonders schwer.

 

Wie groß sind die Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern noch? Die DDR war ein Arbeiter- und Bauernstaat. Entsprechend viele Nichtakademikerfamilien gab und gibt es noch. Inwieweit können Sie unterschiedliche Bedarfe – auch durch Ihre lokalen Gruppen – feststellen?

Wir sehen da noch starke Unterschiede. Aber es liegt auch daran, dass wir aus Westdeutschland kommen und eine westdeutsche Ehrenamtskultur haben. In Ostdeutschland war das Ehrenamt meines Wissens anders strukturiert. Die Bürgerinnen und Bürger engagieren sich auch, aber häufig eher in der Nachbarschaftshilfe oder im traditionellen Ehrenamt, wie z. B. bei der Freiwilligen Feuerwehr. Die Form von Ehrenamt, die wir anbieten, ist immer noch recht neu.

Entsprechend viele sind noch skeptisch und es ist für uns schwieriger, einen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Generell merken wir auch, es ist schwerer, in die Schulen zu kommen. Es gibt mehr Skepsis und Misstrauen, wenn es um solche Angebote geht. Wir müssen stärker um Vertrauen werben. Aber generell glaube ich schon, dass gerade der Bedarf riesengroß ist – vor allem weil die Eltern- und Großelterngenerationen das westdeutsche Bildungs- und Hochschulsystem nicht kannten und sich auch orientieren müssen.

 

Beobachten Sie seit der Gründung von ArbeiterKind.de vor rund 13 Jahren Veränderungen? Wie hat sich die Bildungsmobilität entwickelt?

Die neuesten Zahlen fehlen uns leider noch. Aber in den vergangenen Erhebungszeiträumen haben sie sich leider noch nicht signifikant verändert. Dafür muss man in Deutschland aber auch eine Menge Menschen bewegen.

Was ich schon merke: Vor 13 Jahren waren Studierende der ersten Generation überhaupt kein Thema. Da konnten viele nichts mit anfangen. Heute gibt es ein großes Bewusstsein für diese Zielgruppe – dazu haben wir auch beigetragen. Es gibt eigene Stipendien für diese Zielgruppe, viele Initiativen und auch Fördergelder. Auch der Begriff hat sich in der Hochschulwelt etabliert. Immer mehr Menschen, auch Politiker, sprechen offen darüber, dass sie selbst die Ersten in ihrer Familie sind, die studiert haben. Die Kultur verändert sich: Wir sprechen heute selbstverständlich über ein früher sehr großes Tabuthema. Es gibt ein Bewusstsein für die Problematik und für die Herausforderungen für Studierende der ersten Generation.

Aber der nächste Schritt fehlt noch. Es kann nicht bei der Rhetorik bleiben: „Ja, wir müssen die Nichtakademikerkinder empowern.“ Es müssen noch mehr Taten folgen. Die Strukturen müssen analysiert werden und strukturelle Hürden abgebaut werden. Es kann nicht nur darum gehen, dass die sich anpassen, die aufsteigen und studieren wollen. Wir als Gesellschaft müssen uns fragen: Wo bauen wir Hürden auf, die nicht notwendig sind und die aufhalten? Und wie können wir diese abbauen?

 

Worin liegt für Sie dabei die konkrete gesamtgesellschaftliche Bedeutung?

Die Zahlen zeigen ein ganz klares Ungleichgewicht. Da wird deutlich, dass es nicht um Potenzial und Talente geht, sondern dass die soziale Herkunft über den Bildungsweg entscheidet. Dadurch verschenken wir viel Potenzial in unserer Gesellschaft. Da meldet sich auch das Gerechtigkeitsempfinden: Es kann nicht sein, dass es nicht auf das Potenzial eines Kindes ankommt, sondern nur auf das Elternhaus. Eigentlich kann man schon bei der Geburt sagen, ob das Kind studiert oder nicht. Das ist ungerecht und kann nicht sein. Jedes Kind sollte sein Potenzial unabhängig vom Bildungshintergrund und den finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses entfalten können.

 

Die Struktur von ArbeiterKind.de basiert weitestgehend auf Ehrenamt. Welche Unterstützung wünschen Sie sich von der Politik bei Ihrem Anliegen?

Wir bekommen bereits Unterstützung, unter anderem Fördergelder vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aber die Politik muss noch stärker daran arbeiten, diese strukturellen Hürden abzubauen – unter anderem beim Thema Bafög. Nichtakademikerkinder brauchen von Beginn an eine sichere Studienfinanzierung, z. B. auch im Zusammenspiel von Hartz IV und BAföG. Da merkt man schnell, dass es noch große Probleme gibt. Vielleicht ist es auch nicht vorgesehen, dass jemand, der Sozialhilfe bekommt, studiert. Zumindest hat man das Gefühl, dass da noch nicht intensiv drüber nachgedacht wurde, wie das funktionieren kann.

Ein anderes Thema, das uns gerade sehr beschäftigt, sind die immer höher werdenden Semestergebühren, die aber im Bafög gar nicht vorgesehen sind. Diese verwaltungstechnischen Hürden finanzieller Art zu überprüfen und zu überdenken, würde die Chancen von Nichtakademikerkindern erheblich verbessern.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Katja Urbatsch & Theresa Brüheim
Katja Urbatsch ist Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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