Arbeit – Wohnheim – Bahnhof

Die Arbeiterwohlfahrt als Anlaufstelle für türkischsprachige Gastarbeiter

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Bundesrepublik Anwerbevereinbarungen mit verschiedenen Ländern rund um das Mittelmeer abgeschlossen. Vereinbarungen wurden mit Italien (1955), mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Republik Türkei (1961), mit Marokko (1963), mit Portugal (1964), mit Tunesien (1965) und mit der Republik Jugoslawien (1968) abgeschlossen.

 

Damit begann die Phase der sogenannten Gastarbeitereinwanderung, die einen nicht unerheblichen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik beigetragen hat.

 

Jede dieser Vereinbarungen hat zu einer eigenen Einwanderungsgeschichte der unterschiedlichen Communities geführt. Zu Beginn der Anwerbung wurde sehr schnell deutlich, dass die Kommunikation zwischen den angeworbenen Arbeitnehmern, den Arbeitgebern, den Arbeitskollegen und der deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht von alleine reibungslos verlaufen würde.

 

Die damalige Bundesregierung hat deshalb zu Beginn der 1960er Jahre die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege gebeten, einen Beitrag zur Betreuung und Beratung der angeworbenen Arbeitnehmer zu leisten. Die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas und das Diakonische Werk haben sich entschieden, diesen Beitrag zu leisten. Die Arbeiterwohlfahrt übernahm die Zuständigkeit für türkische Staatsangehörige. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand wissen, dass die Migration aus der Türkei einmal die größte Einwanderungsgruppe ausmachen würde. Die Beratung durch die drei Verbände wurde nach dem Prinzip „Landsleute beraten Landsleute“ organisiert. Die leitende Idee war dabei die Sicherstellung der sprachlichen Verständigung.

 

Die Arbeiterwohlfahrt hat bereits im Jahr 1962 die ersten beiden Beratungsstellen für türkische Arbeitnehmer in Köln und in Stuttgart eingerichtet. Im Jahr 1965 gab es bereits in 20 Städten derartige Beratungsstellen.

 

Die Beratungsleistung bezog sich hauptsächlich auf Probleme am Arbeitsplatz und mit Arbeitsverträgen, Regulierungen nach Arbeitsunfällen, Fragen der Kranken- und Rentenversicherung und natürlich Probleme nach Arbeitsplatzkündigungen. Mit dem Arbeitsplatz war in der Anfangszeit der Anwerbung auch ein Platz in einem Wohnheim verbunden. In den frühem 1960er Jahren lebten die meisten „Gastarbeiter“ in Wohnheimen.

 

„Heim-Arbeit-Heim-Arbeit“ ist eine äußerst häufig zu lesende Zusammenfassung über das damalige Leben, die sich vielfach in den ersten literarischen Arbeiten von damaligen „Gastarbeitern“ findet. Lebenszeit gab es lediglich in zwei Varianten – als Arbeitszeit und als arbeitsfreie Zeit.

In Politik und Gesellschaft wurde die Freizeit der „lediggehenden“ – wie es damals hieß – jungen Männer zunehmend als Problem wahrgenommen und debattiert. Es herrschte Unverständnis und auch Ärger darüber, dass die Freizeitgestaltung darin zu bestehen schien, sich am Bahnhof zu treffen. Für diese Treffen am Bahnhof gab es einfache Gründe: Einmal waren es für viele Menschen die Ankunftsorte und damit auch häufig so etwas wie ein symbolischer Fixpunkt des Ankommens und des möglichen Weggehens. Zudem konnte man häufig nur an Bahnhöfen Zeitungen aus den Herkunftsländern bekommen und dies war damals die einzige Möglichkeit, Nachrichten aus der Heimat abseits von privaten Briefen zu erhalten.

 

Aufgrund des Wissens der Beraterinnen über den Alltag und die kulturellen Handlungsmuster der türkeistämmigen Arbeitnehmer hat die Arbeiterwohlfahrt sehr früh erkannt, dass die eigentlichen Orientierungsprobleme der angeworbenen Arbeitnehmer in der arbeitsfreien Zeit entstanden sind. Die berühmte Formel von Max Frisch ist die treffende Beschreibung der 1960er Jahre, nach der „man Arbeitskräfte gerufen hat und Menschen gekommen sind“.

 

Der damalige zuständige AWO-Referent Richard Haar hat in seinem Beitrag für die Bundeskonferenz 1965 die Situation so beschrieben: „Neben den Beratungsstellen (sind) … auch Freizeitheime für türkische Arbeiter geschaffen worden.“ In dem Beitrag werden 13 Städte erwähnt, in denen derartige Freizeitheime der AWO eingerichtet wurden. Als Ziel dieser Freizeitheime formuliert der Beitrag: „Diese Heime sollen Treffpunkt der Arbeiter außerhalb der Betriebe und Betriebsunterkünfte sein. Von hier aus werden Veranstaltungen aller Art angeregt und durchgeführt. Theatergruppen, Musikgruppen, Sportgruppen der türkischen Arbeiter haben zum Teil in diesen Freizeitheimen ihren Sammelpunkt.“ Einige dieser Freizeitheime orientierten sich methodisch an der Bewegung der sogenannten Volkshäuser (halk eviler), die in der Türkei einen Beitrag zur demokratischen Volksbildung leisten sollten. In den ersten Jahren der Anwerbung haben sich Funktionseliten in der jeweiligen Einwanderungscommunity herausgebildet. Bei den türkeistämmigen Migrantinnen waren es insbesondere:

 

  • die Lehrerinnen, die seit 1964 muttersprachlichen Unterricht durchgeführt haben;
  • Betriebsräte und Gewerkschafts-sekretäre;
  • Sozialberaterinnen der Arbeiterwohlfahrt.

 

In den frühen politischen Gremien, die später zu Ausländerbeiräten oder ähnlichen Partizipationsformen wurden, haben diese Funktionseliten vielfach die Interessen und Wünsche der „Landsleute“ in der deutschen Öffentlichkeit auf der kommunalen Ebene vertreten. Die in den Betrieben eingesetzten Dolmetscher gehörten übrigens nicht zu diesen „Sprecherinnen der Landsleute“, weil die Arbeiter im betrieblichen Alltag häufig schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Das galt auch für die Mehrheit der Leiter von Wohnheimen.

Wolfgang Barth
Wolfgang Barth war bis 2020 verantwortlich für das Thema Migration beim AWO Bundesverband.
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