Nur 21 von 100 Abiturienten aus Nichtakademikerfamilien beginnen heute ein Studium – im Gegensatz zu 74 Akademikerkindern. Hier setzt ArbeiterKind.de an: Gemeinsam mit 6.000 Ehrenamtlichen in bundesweit 80 lokalen ArbeiterKind.de-Gruppen ermutigt Gründerin und Geschäftsführerin Katja Urbatsch Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu, als Erste in ihrer Familie zu studieren, und unterstützt sie auf ihrem Weg vom Studienbeginn bis zum erfolgreichen Studienabschluss und Berufseinstieg. Theresa Brüheim spricht mit ihr über Bildungsmobilität und strukturelle Hürden.
Theresa Brüheim: Frau Urbatsch, wie kamen Sie auf die Idee, ArbeiterKind.de zu gründen?
Katja Urbatsch: Ich bin selbst die Erste aus meiner Familie, die einen Hochschulabschluss erreicht hat und kenne daher nicht alle, aber einige der Hürden aus eigener Erfahrung. Als ich vor 13 Jahren ArbeiterKind.de gegründet habe, war es noch überhaupt kein Thema, was es bedeutet, als Erste oder Erster aus der Familie zu studieren. Viele Informationen und auch Unterstützung z. B. für Stipendienbewerbungen musste ich mir mühsam zusammensuchen. Andere sollen es einfacher haben als ich. Daher möchte ich ermutigen und unterstützen.
Sie kennen nicht alle, aber einige Hürden aus eigener Erfahrung. Welche sind das?
Erst mal muss man auf die Idee kommen, dass man überhaupt studieren kann. Ich hatte in meinem Umfeld keine Vorbilder, die studiert haben. Dann kommt man häufig nicht auf die Idee, denn die Umwelt spielt eine große Rolle – was bekommt man vorgelebt und welche Optionen sieht man darin für die eigene Zukunft. Wenn alle eine Ausbildung gemacht haben, dann kommt schnell der Gedanke: Das ist der Weg – und alle empfehlen diesen.
Selbst wenn man die Idee zu studieren hat, fehlen im Umfeld von nichtakademischen Familien häufig Menschen, die man fragen kann und die Erfahrung mitbringen. Man muss sich in der Regel allein durchkämpfen und die Entscheidung treffen. Das ist eben schwierig. Und das ist allein der Start.
Weiter geht es mit der Finanzierung, ein ganz, ganz wichtiges Thema. Ins Studium muss man erst mal investieren. Bei einer beruflichen Ausbildung bekommt man Geld. Die Studienfinanzierung ist etwas, was viele vom Studium abhält, weil sie Sorgen haben, dass sie sich das nicht leisten können. Sie wollen den Eltern nicht auf der Tasche liegen oder sie haben Angst, Schulden zu machen. Da versuchen wir dann aktiv, mehr aufzuklären.
Aus Erfahrung – ich habe als Erste in der Familie studiert – kann ich sagen, dass eine weitere Hürde auch darin besteht, nicht zu wissen, was man dann mit dem Studium machen soll. Viele Studiengänge, insbesondere in den Geisteswissenschaften, führen nicht zu dem einen klaren Berufsweg – das sollen sie ja auch gar nicht.
Ja, auf jeden Fall. Eine berufliche Ausbildung ist sehr praxisorientiert, da weiß man genau, was man hinterher macht – das kann die Familie und man selbst gut verstehen. Ein Studium ist häufig sehr abstrakt und man weiß nicht genau, was macht man hinterher und wie viel Geld verdient man? Und es ist eben für viele, die aus nichtakademischen Familien kommen, ein Risiko zu studieren. Das ist ein Schritt ins Ungewisse. Deswegen werden viele, die als erste aus ihrer Familie studieren, Lehrerin oder Lehrer, da das der Erste akademische Beruf ist, den man kennt. Verbreitet sind auch z. B. BWL und Ingenieurwissenschaften – das ist verständlicher.
Wirft man einen Blick in den Hochschulbildungsreport 2020, sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: 21 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, 8 von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, eines den Doktortitel. Im Vergleich dazu stehen folgende Zahlen von Akademikerkindern: 74 von 100 beginnen ein Studium, 45 erwerben den Masterabschluss, 10 den Doktortitel. Darin wird auch noch mal deutlich, wie hoch die genannten Hürden tatsächlich sind. Wo setzt nun ArbeiterKind.de an, um diese zu verringern?
Wir gehen vor allem mit unseren ehrenamtlichen Gruppen – wir haben 80 lokale Gruppen in Deutschland – in die Schulen und organisieren dort Informationsveranstaltungen zum Thema Studium. Dahinter steht die Idee, dass ich mich sehr gefreut hätte, wenn in meiner Schulzeit jemand in meine Schule gekommen wäre und mir etwas übers Studium erzählt hätte, weil eben die Vorbilder in der Familie fehlten. Unsere Freiwilligen berichten dabei von ihren eigenen Bildungsgeschichten und geben Informationen weiter, um mehr Schülerinnen und Schüler aus nichtakademischen Familien zu ermutigen, ein Studium zunächst einmal in Betracht zu ziehen und sich dann auch zu trauen, wenn sie das möchten. Auf diesem Weg versuchen wir, die Zahlen zu verändern.
Dann helfen wir auch beim Übergang ins Studium und während des Studiums. Mittlerweile geht das sogar bis in den Berufseinstieg. Inzwischen haben wir Doktoranden in den Gruppen. Unsere Freiwilligen nehmen dabei die Rolle der „älteren Geschwister“ ein: Sie sind Ansprechpersonen und Vorbilder, die man im eigenen Umfeld nicht hat, mit denen man darüber sprechen kann und die zeigen, wie es gehen kann. Und dass ein Studium gar nicht so ein großes Risiko ist, wie es anfangs erscheint.
Das ist das, was wir tun können, aber es gibt natürlich auch strukturelle Hürden. Dabei sind uns häufig die Hände gebunden. Ein Beispiel ist die Studienfinanzierung. Die ist sehr abschreckend, denn häufig wird dabei nicht die tatsächliche Situation von Nichtakademikerkindern berücksichtigt. Auch die Behandlung an der Hochschule zählt dazu: Dort herrscht eine Kultur, die hochakademisch und sehr voraussetzungsreich ist. Da gibt es insbesondere in den Strukturen noch sehr, sehr viel zu tun.
Sie gehen vor allen Dingen für Informationsveranstaltungen in Schulen. Wie setzen Sie dies aktuell in der Pandemie um?
Da wir aktuell nicht in die Schulen gehen können, machen wir Online-Veranstaltungen, die wir gemeinsam mit unseren Ehrenamtlichen entwickelt haben und anbieten. Wir setzen auch verstärkt auf Social Media.
Das läuft gut. Aber natürlich erreichen wir nicht die gleiche Anzahl an Schülerinnen und Schülern, wie wenn wir physisch in die Schulen gehen.